Einzelnen Beitrag anzeigen
  #65  
Alt 08.01.2009, 14:44
Stefans Stefans ist offline
Gesperrt
 
Registriert seit: 27.01.2007
Beiträge: 426
Standard AW: Mögen die Engelchen dich begleiten, liebste Mama

Liebe Susanne,

Zitat:
Zitat von Susanne85 Beitrag anzeigen
ich bin überwältigt von dem Humor, den du (noch) trotz allem mit dir trägst.
Das ehrt mich Und es erinnert mich an das Motto, das der ambulante Hospizdienst hier vor Ort auf seiner Homepage hat:

Man stirbt wie man lebt.
Das Sterben gehört zum Leben,
nicht zum Tod.

So ist es. Und meine Frau und ich haben halt eher unkonventionell gelebt. Und aus Erfahrung mit der Überzeugung, dass jeder Tag, an dem man nicht lacht, ein verlorener Tag ist. Selbst, wenn es mitunter nur noch zu Galgenhumor reicht.

Zitat:
Liegt es an der "tollen gemeinsamen Planung" zwischen dir und deiner Frau? An der puren Offenheit und Ehrlichkeit euch beiden gegenüber? Daran, dass du einfach älter und somit reifer und lebenserfahrener bist?
Es liegt sicher daran, dass die "Vorwarnzeit" beim Sterben meiner Frau einige Monate betrug. Und wir deshalb alle wichtigen Dinge ansprechen und so regeln konnten, wie es meine Frau gewünscht hat. Aber du hast recht: trotz genug Zeit in der "Planungsphase" ging das nur, weil wir offen und ehrlich (und ohne Tabus) über alles miteinander sprechen konnten.

Und dass wir das konnten, hat mit Lebenserfahrung zu tun. Nicht meiner, sondern unser gemeinsamer! Wir leben seit über 20 Jahren zusammen. In der Zeit sind wir beide gereift und haben viele Krisen zusammen durchstanden. Jahrelang kriselte es, und es war reiner Zufall, dass wir uns damals nicht getrennt haben. Geheiratet haben wir erst nach 14 Jahren "Probezeit" - als wir beide die absolute Sicherheit empfunden haben, dass unsere Partnerschaft ein Leben lang hält; dass wir einander blind vertrauen und uns auf den anderen verlassen können - und zusammen alt und grau werden möchten.

Meine Frau und ich haben Depressionen. Seit ewigen Zeiten, und seit noch nicht so sehr vielen Jahren durch Medikamente gut im Griff. Ich habe sie oft genug am Boden liegen sehen, und sie mich. Meine Frau hat mir das Leben gerettet, indem sie mich vor ca. 7 Jahren in meiner akut suizidalen Phase (als mir alles egal war und ich stundenlang mit Vollgas über die Landstraßen gerast bin, immer auf der Suche nach dem "letzten" Straßenbaum) bei der Hand genommen und zum Psychiater und dann in die Klapsmühle gezwungen hat. Und ich habe ihr in ihren schlimmsten Phasen geholfen, so gut ich eben konnte. Das schweisst zusammen. Und gab irgendwann die Gewissheit, dass wir uns, was auch immer passieren mag, jederzeit absolut bedingungslos auf den anderen verlassen können.

Zitat:
älter und somit reifer
Das glaube ich nun wieder nicht. Lebenserfahrung und Reife ist keine Frage des Alters. Sondern macht sich daran fest, wie viele Krisen man durchlebt und wie man damit umgegangen ist. Lebenserfahrung macht man nach meiner Überzeugung nicht, wenn man im Urlaub ist und sich zufrieden die Sonne auf den Bauch scheinen läßt. Nee, die macht man, wenn etwas hart, bitter, traurig und extrem schwierig durchzustehen ist.

Meine Frau und ich und ihre Schwester (die selbt Brustkrebs hat) haben in den letzten Monaten und besonders in den letzten Wochen einen knallharten "Chrash-Kurs" in Sachen Lebenserfahrung machen müssen. Wir haben in dieser kurzen Zeit so viel erfahren und gelernt wie in vielen Jahren zuvor nicht.

Das ist genau das, was dir und deiner Mutter auch widerfahren ist. Und für mich ist es keine Frage des Alters, ob / wie Mensch solche Krisen meistert und vielleicht etwas daraus lernt.

Schon bei deinen ersten postings hier (damals in einem anderen Forum / thread) habe ich gespürt, dass du mit deiner Mutter zusammen diese schwere Krise bewältigen wirst. Weil du stark bist, aber deine Grenzen spürst. Und nicht zögerst, hier deine Probleme zu offenbaren und Hilfe (so wenig, wie man virtuell auch geben kann) anzunehmen. Und weil du "authentisch" bist. Du machst aus deinem Herzen keine Mördergrube, sondern legst die Karten zeitnah und offen auf den Tisch.

Ich bin dem lieben Gott (oder wer auch immer da oben ist) zutiefst dankbar dafür, dass er mir und meiner Frau die Fähigkeit zur Reflektion und Selbsterkenntnis mitgegeben hat. Und die Stärke, auch in schweren Situationen dem Schicksal ins Angesicht zu blicken und sich ihm zu stellen, statt in Panik davonzulaufen. Und diese Fähigkeiten und Stärken hast du auch, genau so wie deine Mutter. Deswegen habe ich dir schon vor langem hier größten Respekt gezollt. Und war überzeugt, dass du diese Krise meistern wirst. Und daran reifen und wachsen.

Scheissegal, ob du 23 oder 43 bist. Die Fähigkeit hast du jetzt schon, das hast du hier eindrücklich bewiesen. Und ich bin mir sicher, trotz allem Leid und aller Trauer, die jetzt herrscht... es ist langfristig gesehen gut für dich, so wie es gut für mich ist (der ich fast 20 Jahre älter bin als du). Du wirst daran wachsen, und du kannst in Zukunft so in Frieden weiterleben, wie deine Mutter in Frieden gehen konnte. Wenn du in x Jahren an das Sterben deiner Mutter und diese traurige Zeit zurückdenkst, wirst du dir sagen: Gott sei Dank habe ich mich dem gestellt, habe die Herausforderung angenommen und diese schwierige Phase gemeistert. So gut gemeistert, dass ich keine Schuldgefühle haben muss, mich nicht dauernd fragen muss, was ich hätte damals bloss anders / besser machen können. Nein, du kannst im Rückblick im Frieden mit dir selbst zurückschauen und sagen: Ja, es war extrem hart. Aber es war gut so, wie ich es gemacht habe. Ich habe nichts zu bereuen. Und deine Mutter wird dir von da oben zustimmen und sagen: "Genau, Susanne - das hast du so prima gemacht, besser hätte ich es mir gar nicht wünschen können!" Und weil das so ist, werden im Rückblick auf diese schwere Zeit bei dir die positiven Erinnerungen überwiegen. Weil du die negativen Dinge angegangen bist, als es an der Zeit war. Und sie bewältigt hast und deshalb "abgehaken" kannst.

Das ist keine Altersfrage. Schau dir deinen Vater an. Der wird auch mit 60 oder 80 nicht in der Lage sein, sich dem Leben zu stellen. Er ist vor dieser Krise davongelaufen, indem er sich zugeschüttet hat. Und das wird er auch weiterhin tun. Weil er die Bürde hat, sich Rest seines Lebens das Hirn zu zermarten, warum er unfähig war, seine Frau und Tochter in dieser schlimmen Zeit zu begleiten. Warum er nichts anderes konnte als zu streiten, zu saufen und anderen Vorwürfe zu machen. Damit muss er in Zukunft leben. Und er wird ganz beschissen damit leben. Das einzige, was sich für ihn ändert: er hat jetzt noch ein paar mehr Gründe dafür, sich tagtäglich zu besaufen. Weil er mal wieder versagt hat, und er das auch genau weiss. Und das kaum ertragen kann. Aber damit bis zu seinem Ende leben muss - und jedes Anzeichen von Selbsterkenntnis jedesmal erneut sofort mit Hilfe von Alk "wegdrücken" muss. In dessen Haut - in völliger Klarheit des eigenen Versagens - möchte ich nicht stecken. Dein Vater ist ein armes Schwein. Und wenn er als Alki nicht so widerlich, lästig und bösartig wäre, könnte ich fast Mitgefühl mit ihm empfinden.

Du aber bist ein authentischer, starker und liebenswerter Mensch! Das spüren alle hier im Forum. Und deswegen wirst du in Zukunft viel eher im Einklang mit dir leben können als viele andere. Und du wirst niemals alleine sein. Weil zu deiner Stärke auch gehört, Schwäche einzugestehen und Hilfe zu suchen, wenn es nötig ist. In die Offensive zu gehen, bevor es zu spät ist.

Deswegen bin ich nicht nur zutiefst überzeugt davon, dass du deinen Weg gehen wirst. Sondern dass du auch anderen künftig viel von deiner Lebenserfahrung und Reife abgeben kannst. Das ist sehr schön, und das ist ein großes Privileg. Wer auch immer dir diese Gabe (und ich glaube, es ist eine Gabe; und nicht etwas, was man nur "mit dem Kopf" lernen kann) verliehen hat - du kannst ihm zutiefst dankbar dafür sein.

Zitat:
Ich weiss, was Mama sagen würde
(...)
Meine Mama ist auch so gestorben, wie sie wollte.
(...)
Aber ich habe das hier, weil ich das will.
(...)
Ich trinke jetzt noch ein Glas Wein.
Genau das meine ich. Du hast deine Mutter begleitet, in ihrem Sinne, so wie sie sich das gewünscht hat. Du konntest ihr dabei helfen, dass ihr letzter Wunsch erfüllt wurde. Und was du in den letzten Monaten getan hast, und wo du selbst oft am Ende deiner Kraft warst... das war nicht nur für deine Mutter wichtig, sondern auch für dich selbst.

Und deshalb hast du es dir verdient, in Ruhe ein Glas Wein (und künftig noch viele weitere) zu trinken - und dabei ohne Reue und Bitterkeit an das Sterben und den Tod deiner Mutter zu denken. Sondern mit der Gewissheit, dass du das genau richtig gemacht hast, so wie deine Mutter es sich wünschte.

Und wenn du deiner Mama zuprostet und sie fragst: "Na, Mama, wie habe ich das gemacht?". Dann weisst du, dass sie dir immer antworten wird:

"Super! Susanne, ich bin stolz auf dich!"

Viele Grüße,
Stefan
Mit Zitat antworten