Einzelnen Beitrag anzeigen
  #40  
Alt 15.10.2009, 13:47
Stefans Stefans ist offline
Gesperrt
 
Registriert seit: 27.01.2007
Beiträge: 428
Standard AW: Krebs als Chance

Hallo Nikita,

Zitat:
Zitat von nikita1 Beitrag anzeigen
Krebs als Chance ist der grösste Nonsens, der mit je untergekommen ist.
Da stimme ich dir zu. Auch im Namen meiner Frau, die Anfang 2009 nach 2 Jahren an Krebs gestorben ist. War auch ihre Meinung.

Ich finde diese ganze spirituelle Dankbarkeits-, Hoffnungs-, Chancen- und Psycho-Kiste ja recht interessant. Und wem es hilft... Aber, wie Stephan schreibt, ist diese Sicht der Dinge recht einseitig: "Ich lebe noch … und bewusster und dankbarer (für jede schmerzfreien Tag und Stunde, jede kleine Freude und Zuneigung, die ich erfahren darf) denn je". Eben, er lebt noch, zum Glück. Aber was diejenigen, die (trotz aller Spiritualität) an Krebs gestorben sind, dazu sagen würden, werden wir wohl kaum erfahren.

Ich kann nur sagen, wie es meiner Frau und mir erging. Wir haben auch Bekannte, die etwas fernlöstlich religiös bzw. esoterisch angehaucht sind. Und immer wunderbare, hoffnungsvolle Worte fanden. Die leben allerdings noch, zum Glück für sie. Meine Frau wäre auch dankbar für jede schmerzfreie Stunde und jede kleine Freude gewesen. Sie hat sich z.B. nichts mehr gewünscht, als nochmal mit dem Hund rausgehen zu können, wenn auch im Rollstuhl und mit mobiler Morphiumpumpe. Oder mit ganz viel Glück noch den Frühling zu erleben. Nichts davon sollte noch sein.

Spätestens, als bei meiner Frau klar war, dass sie sterben muss (nach der wegen Erfolglosigkeit abgebrochenen Chemo gegen die Metastasen), hat sie Worte wie die folgenden von Rudolph als reinen Hohn empfunden.

"Angst ist Gift für den Körper . . . . . und noch mehr für die Seele.
Entscheiden Sie sich für das Leben, sagte eine Psychologin . . "

Und nichts anderes sind sie für mich. Die absolute Verhöhnung von Todkranken. Meine Frau hatte keine Angst. Aber sie hatte auch keine Wahl mehr. IMHO gehört Psychologen, die angesichts eines nahen Krebstodes Dummheiten wie "entscheiden sie sich für das Leben" absondern, sofortiges Berufsverbot erteilt. So dickfellig und instinktlos kann doch kein Mensch sein, dass er sowas ernsthaft rausläßt. Weil darin die infame Unterstellung liegt, dass die, die an der Krankheit sterben, sich "gegen das Leben entscheiden" würden. Wer das glaubt, dem ist das langsame, schmerzhafte und qualvolle Sterben am Krebs schon fast zu wünschen. Spätestens dann weiss er es nämlich besser.

Für meine Frau war schon die Onkologin in der Klinik schlimm genug. Sie hat sich (als sie noch die Kraft dazu hatte) sehr darüber aufgeregt, dass die Ärztin (nach der abgebrochenen Chemo) ihr sinngemäß sagte: man könne noch ganz viel tun, aber das käme v.a. auf ihren Kampfeswillen an. Dieses statement war eine absolute Unverschämtheit. Natürlich tun die in der Klinik immer gerne alles bis zum bitteren Ende. Schließlich verdienen sie 500 EUR an jedem Tag, den das Leben des Todkranken länger dauert. Wie er da noch lebt oder vegetiert, interessiert die nicht. Zumindest, solange der Patient im Lebenserhalt billiger bleibt als die Fallpauschale, die die Kasse übernimmt.

Im 4-Augen-Gespräch mit mir fing die Ärztin wieder an: "Wir sind medizinisch noch lange nicht am Ende. Aber ihre Frau will ja offenbar nicht mehr..." Ich musste mich schwer beherrschen, da keine Tätlichkeit zu begehen. _Alle_ wussten, dass es vorbei ist. Nur nicht, wann genau. Und dann sowas ?!?! Nein, meine Frau "wollte nicht mehr" (anders als palliativ behandelt werden). Sie wollte nur noch nach Hause und möglichst schmerzfrei und in Frieden sterben. Haus und Garten sehen, Hund und Katze, Ehemann, Freunde, Familie, in ihren eigenen vier Wänden. Sie wollte einfach ihre Ruhe und Alltag. Und kein Mehrbettzimmer in der Klinik, wo man Samstag morgen um 4 unbemerkt krepiert und es das erstes der Frühschicht um 6 auffällt.

Bewußter haben meine Frau und ich auch gelebt seit der Krebserkrankung. Und die kleinen Freuden des Alltags sehr viel mehr wahrgenommen als früher. Aber "Krebs als Chance" - dass ich nicht lache... Meine Frau konnte sich nicht "für das Leben" entscheiden. Und wenn irgendjemand hier irgendjemanden persönlich kennt, der sich bewusst "gegen das Leben" entschieden hat - dann würde ich das nicht glauben. Auch, wenn manche spiritualistisch-esoterische-verklärte Menschen das wohl tatsächlich glauben: tja, falsch und destruktiv gelebt, der/die wollte ja sterben. Die mögen meinetwegen darauf warten, bis es sie selbst trifft, und dann aus anderer Perspektive über Spiritualität philosophieren.

Zitat:
Zitat von duenengras Beitrag anzeigen
Vor gar nicht allzu langer Zeit wurde man noch belächelt, wenn man die Psyche mit der Fähigkeit zum Gesundwerden in Beziehung brachte. Heute gibt es an jeder Krebsklinik Psychotherapeuten!
Das ist übrigens sachlich falsch bzw. in sinnverzerrendem Zusammenhang geäußert. Natürlich gibt es Psychotherapeuten in jeder Klinik. Deren Aufgabe ist aber nicht, "psychische Fähigkeiten zum Gesundwerden" zu wecken. Weil es die nämlich nicht gibt. Dass Menschen ihren Todeszeitpunkt in gewissen Grenzen selbst bestimmen können, ist eine Wahrheit, die schon lange vor der Erfindung der Psychologie als "Wissenschaft" bekannt war.

Dass psychisches Befinden den Verlauf von Krebserkrankungen beeinflusst, ist allerdings ein Irrglaube, der aus den 70er/80er Jahren stammt. Gewachsen auf dem Psycho-/Sozio-Logen-Theorem, dass das Leben als solches rein sozialisiert ist und alles und jedes vom Menschen beeinflusst werden kann. Eine tiefschwarze Phase der Psycho-Wissenschaften, die im esoterischen Geschwätz von sogenannten "Krebspersönlichkeiten" ausuferte.

Heute ist nachgewiesen, dass es keine "Krebspersönlichkeiten" gibt. Bzw., dass Menschen mit Persönlichkeitsmerkmalen, die nach Auffassung von Theoretikern von vor 30-40 Jahren wegen ihres destruktiven Umgangs mit sich selbst dafür prädestiniert seien, Krebs zu bekommen, diesen nicht seltener oder öfter bekommen als der Durchschnittsmensch. Seriöse Versuche, einen Zusammenhang zwischen Krebserkrankungen und psychischer Befindlichkeit (manifestiert in klinischen Diagnosen wie Depression, Angesterkrankungen u.a.) herzustellen, sind gescheitert.

Noe, die simple Wahrheit ist: Tumorzellen kümmern sich nicht um Lebensfreude oder Depression, Spiritualität oder Rationalität. Die wachsen einfach unbeeindruckt von solch theroretischem Überbau. Und bei wem sie wider Erwarten nicht weiter wachsen; der hat verdammtes Glück gehabt und wirklich Grund zur Dankbarkeit. Aber aus diesem persönlichen Glück eine Lebensphilosophie für alle zu machen, ist IMHO nicht nur sachlich falsch, sondern auch reichlich anmaßend.

Viele Grüße,
Stefan
Mit Zitat antworten