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Alt 21.07.2008, 18:06
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fee-morgana fee-morgana ist offline
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Standard AW: Abschied auf Raten

Danke Maja und Kirsten!

Tja, was soll ich sagen ... zur Verblüffung aller hat mein Vater der Krise nach der Operation standgehalten. Er wurde am Samstag morgen "versehentlich" reanimiert (der hinzugerufene Arzt wusste nichts von seiner Patientenverfügung). Die Ärzte waren überzeugt, dass er den nächsten Tag nicht überlebt und ich - als ich ihn am Samstag Nachmittag nach über 500 km Fahrt endlich sah - ebenfalls.

Bisher kenne ich keinen anderen Menschen, der in diesem Alter mit schierer Willenskraft dem Tod zu trotzen vermag. Er ist nur noch eine handvoll Mensch, abgemagert und körperlich kaum mehr als Haut und Knochen.
Und doch ... ich kann es nicht in Worte fassen, aber während ich Samstagnacht stundenlang seine Hand hielt, war ich mir sicher, dass er nicht stirbt. Noch nicht. Sein Herz schlägt kräftig und gleichmäßig, der Druck und die Wärme seiner Hände sind nicht die eines Sterbenden, sonder des Mannes, der mich als Kind immer vor den Monstern in der Nacht beschützt hat. Zwischendurch habe ich mich gefragt, warum er mich eigentlich tröstet und nicht ich ihn.
Wie lange er diese Kräfte mobilisieren kann, weiß ich nicht. Es kann jederzeit und schnell vorbei sein, aber es kann auch noch eine Weile dauern.
Geistig ist er vollkommen da. Er ist mein Vater, wie ich ihn schon immer kenne.
Es war ein anstrengendes, aber auch in mannigfaltiger Hinsicht ein sehr schönes, bereicherndes Wochenende, obwohl der Anlass traurig ist. Ich möchte die Stunden dort nicht missen.
Eins meiner Kinder hat mich auf eigenen Wunsch begleitet. Er ist 11 und hat meinen Vater ganz selbstverständlich in den Arm genommen und geküsst, wie er es immer tat und das obwohl sein Anblick auch für einen Erwachsenen verstörend war.
Meine Geschwister, deren Kinder, teilweise samt Anhang, alle waren zwischendurch da. Mein Vater und meine Mutter waren sehr berührt und glücklich darüber. Mein Bruder und ich haben darüberhinaus viele, viele Stunden tagsüber und in der Nacht gemeinsam im Krankenzimmer verbracht. Schweigend, ruhig. Einfach nur ... da sein. Ein Gefühl, dass ich vermutlich nie vergessen werde.
Doch bei einem bin ich mir inzwischen ziemlich sicher. Wenn mein Vater demnächst seine Augen für immer schließt, dann tut er das, wenn er allein ist. Solange jemand bei ihm ist, wird er nicht loslassen können.
Wenn die Ferien in zwei Wochen beginnen, werden wir wieder hinfahren. Ob er dann noch lebt, kann niemand einschätzen.
Heute wurde ihm fast 1 Liter Wasser aus der Lunge geholt. Er benötigt keinen zusätzlichen Sauerstoff mehr und es wurde festgestellt, dass sich bei der Reanimation der Zugang für die Morphiumgabe gelöst hatte und das Mittel daher nicht wirken konnte. Da er weitere zusätzliche Schmerzmittel in vollem Bewusstsein abgelehnt hat, weil er die Schmerzen als erträglich empfand, scheint es nun so, als hätte er die gesamten letzten Tage vollkommen ohne Schmerzmittel überstanden.
Es ist unglaublich, wozu ein Mensch in der Lage ist.

Seit diesem Wochenende bin ich nun tatsächlich geneigt, wieder an den Weihnachtsmann zu glauben ... und daran, dass mein Vater vielleicht doch noch in Kürze seinen Geburtstag mit uns feiert.
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Das Schicksal mischt die Karten und wir spielen
(A. Schopenhauer)

Geändert von fee-morgana (21.07.2008 um 18:09 Uhr) Grund: Dreckfuhler
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