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Alt 27.01.2006, 19:06
Mel72 Mel72 ist offline
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Standard AW: Meine Geschichte: Warum ich hier bin

Hallo an alle!

Ich bin seit einer ganzen Weile nicht mehr hier im Forum gewesen (habe dies aber vor einiger Zeit sehr intensiv als stiller Mitleser getan).

Heute hatte ich das dringende Bedürfnis danach und kann, wie jedes Mal davor, vor lauter Tränen kaum aus den Augen gucken. Man stolpert von einem zum anderen Thema, bleibt hier hängen und dort, und erkennt so viele Dinge wieder, die man aus eigener, leidvoller Erfahrung kennt.

Es ist heute auf den Tag genau ein halbes Jahr her, dass ich meinen Papa verloren habe. Er war erst 61 und hat fast zwei Jahre lang, nachdem uns die Diagnose Bsdk überrollt hat, gelitten und gekämpft. Auch er war jemand, der immer hart gearbeitet hat, seltenst zum Arzt gegangen ist, und dann dieser Hammer. Er wurde im August 2003 (Whipple-OP) operiert, und darauf folgten 2 Jahre Achterbahnfahrt. Es gab in diesen 2 Jahren unglaublich viele Aufs und Abs. Aber die Zeit, die sich bei mir am tiefsten eingebrannt hat und die ich auch am intensivsten erlebt habe, waren die letzen Wochen bis zu seinem Tod.

Ich wohnte 2 1/2 Stunden von meinen Eltern entfernt und bin in diesen 2 Jahren so oft wie möglich hingefahren, natürlich an vielen Wochenenden und in den Ferien (ich bin Lehrein). Als es ihm massiv schlechter ging, konnte ich (die Sommerferien standen kurz bevor) Gott sei Dank ein oder zwei Wochen früher aufhören zu arbeiten, um nach Hause zu fahren, und dort zu bleiben.

Papa hatte nach vielen Krankenhausaufenthalten während der 2 Jahre davon die Nase gestrichen voll, und ich bin unendlich dankbar dafür, dass wir ihm diesen Wunsch, kein Krankenhaus mehr von innen sehen zu müssen, erfüllen konnten. Er durfte bis zum Schluss zu Hause sein, was streckenweise für uns alle (meine Schwestern und vor allem meine Ma) natürlich unwahrscheinlich anstrengend war. Vor allem die letzen Wochen, in denen er immer schwächer wurde und rundum gepflegt werden musste. Zwar hatten wir wunderbare Schwestern von der örtlichen Diakoniestation, die uns dabei unterstützten, aber die kamen nur 2, später 3 mal am Tag, jeweils nur für kurze Zeit, um ihn zu waschen oder zu rasieren, und um ihm seine Morphinspritzen zu verabreichen. Es hat zwar lange gedauert, aber irgendwann waren die Schmerzmittel so gut eingestellt, dass er die letzte Zeit wirklich schmerzfrei war, was die Pflege zu Hause vermutlich überhaupt erst möglich gemacht hat.

Eine der Diakonieschwestern hatte eine Zusatzausbildung in der Palliativmedizin, was für uns ein Segen war. Sie gab uns Broschüren und Bücher zum Lesen und darüber hinaus viel Unterstützung und Hilfe bei allen Fragen, die wir hatten. Dies wurde um so wichtiger, als es dem Ende entgegen ging. In diesen letzten Tagen kamen immer wieder neue Dinge hinzu, mit denen wir irgendwie umgehen und fertig werden mussten.
So z.B. damit, dass es Papa irgendwann einfach nicht mehr möglich war zu schlucken. Er hatte schon einige Tage vorher aufgehört zu essen, er bekam immer weniger runter und es dauerte jedesmal unendlich lange. Dementsprechend schwierig war es auch zu diesem Zeitpunkt schon, dass er seine verschiedensten Medikamente nahm. Nun kam hinzu, dass er nicht mehr trinken konnte. Wir mussten uns nun damit abfinden, dass er jetzt keines der (oralen) Medikamente mehr einnehmen konnte. Dss war ein verdammt schwieriger Moment. Das zuzulassen hieß ja, dass man sich damit abgefunden hatte, dass er bald sterben würde. Die Alternative wäre künstliche Ernährung gewesen und Medikamentengabe über Tropf oder Port oder sonstwas, doch auch dies, das war uns bewusst, würde ihn kaum wieder mehr zu Kräften kommen lassen. Außerdem stand ein Krankenhausaufenthalt nicht zur Debatte. Es zerriss einen innerlich, im Grunde nichts mehr dafür tun zu können, was sein Leben verlängert hätte.
Aber auch das war etwas, was wir durch die kompetente Hilfe der Schwestern lernten. Dass es in den letzten Tagen und Stunden nur noch darauf ankam, für Papa da zu sein, mit ihm zu sprechen (bzw. als er selber nicht mehr reden konnte, zu ihm zu sprechen), ihn zu streicheln und in den Arm zu nehmen. Irgendwie haben wir das hinbekommen. Ich weiß nicht, wo wir die Kraft dafür hergenommern haben, aber irgendwie haben wir es geschafft, ihm auf der einen Seite zu zeigen, wie sehr wir ihn lieben, und ihm auf der anderen Seite das Gefühl zu geben, dass wir ihn gehen lassen konnten. Das war so unglaublich schwer. Aber wahrscheinlich war es ihm nur so möglich, uns zu verlassen und friedlich in die andere Welt über zu gehen. Und so habe ich es auch empfunden. Seine letzten Atemzüge (bei denen ich dabei sein durfte, wie bescheuert das jetzt auch immer klingen mag) waren ruhig und überhaupt nicht hektisch oder so. Sein Atem wurde einfach langsamer und weniger, bis er ganz aufhörte. Es war unfassbar. Diese Ruhe, die ich in seiner Nähe auch schon Tage vorher immer intensiver empfunden habe, war jetzt vollkommen. Ich hätte erwartet, dass dieser Moment grausam wäre und ich irgendwie anders reagieren würde. Aber es war gut so wie es war. Ich war darauf vorbereitet und hatte ihn losgelassen.
Meine Mutter, die auch mit mir, meiner Schwester und meinem Mann (der mir in der ganzen Zeit übrigens eine unglaubliche Stütze war) im Raum war, als er starb, drohte einen Moment zusammenzubrechen. Sie rief, dass man ihm doch irgendwie helfen müsste und wir den Arzt holen sollten. Aber auch sie hat sich kurze Zeit darauf wieder beruhigt, und so standen wir einfach vor ihm, hielten uns in den Armen und weinten still.

Trotz allem Schmerz bin ich unendlich dankbar dafür, dass ich diese Zeit mit ihm verbringen konnte und ihn begleiten durfte. Es war so eine intensive Zeit, die uns (meinen Papa und mich, aber auch uns andere untereinander) einander so viel näher gebracht hat. Früher wurde in meiner Familie nie viel in den Arm genommen oder über Liebe geredet. Dies hatte sich alles geändert.

Und ich bin immer wieder erstaunt über die Kräfte, die ich in dieser Zeit entwickelt habe, und auch darüber, wie "gut" ich hinterher klar gekommen bin. Ich hatte unglaubliche Angst davor, anschließend wieder ins "normale" Leben hineingeworfen zu werden. Aber irgendwie ging es weiter.

Ich vermisse meinen Vater unendlich, aber ich glaube, dass es ihm da, wo er jetzt ist, besser geht. Und ich weiß, dass es immer bei mir ist, egal wo ich bin und was ich tue.

Ich wünsche jedem von euch genausoviel Kraft, bei allem was ihr gerade durchmacht oder was euch noch bevorsteht.

Viele liebe Grüße,
Melanie
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