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Alt 17.10.2006, 22:46
Norma Norma ist offline
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Registriert seit: 06.11.2005
Beiträge: 1.157
Standard AW: Nimm sie in deine Arme oh Herr....und gib mir mehr Kraft!

Hallo Mutti,

das Röntgen hat eigentlich was Gutes ergeben...das künstliche Gelenk ist noch an Ort und Stelle, das Eingipsen hat also was bewirkt.
Nur....du hattest ein Riesen-Hämatom an der Wunde, welches aufgegangen ist und schrecklich genässt hat.
Da musste dir der Arzt doch noch mal wehtun; er hat das Ding ausgesaugt, damit es schneller abheilen kann.
Aber bei heilt doch nix mehr, deine Thrombozyten liegen nur bei 46, du bist praktisch zum Bluter geworden.
Ja ja, ich weiß, dass nur Jungens Bluter sein können, aber vergleichbar ist das trotzdem, nicht wahr?

Selbst das Blutabnehmen ist schwierig geworden, du hast dann immer eine richtige kleine Wunde, die lange nachblutet.
Und wenn es dann endlich aufgehört hat, reibe ich eine dünne Schicht Babycreme drauf, dann geht es besser.

Und dann hat man dir gleich 10 kleine Röhrchen Blut abgenommen, das wird jetzt nach Hagen in ein Speziallabor geschickt.
Dort soll man herausfinden, warum dein Kaliummangel nicht besser wird und warum du nur noch so wenige Thrombos hast.
Wieder heißt es warten, Mutti und dir läuft die Zeit davon.

Wahrscheinlich freuen sich deine Lebermetas, dass sie einfach so weiterwachsen dürfen und nicht angegriffen werden.

Aber im Moment sind uns die Hände gebunden, so ein Mist aber auch!

Wenn du mal klar im Kopf bist, schaust du immer so traurig. Du weißt dann für einen Augenblick, was los ist.
Das ist dann immer besonders schlimm für mich; dieses zugucken müssen und einfach machtlos zu sein.

Gestern abend hast du dann auf einmal schrecklich phantasiert.
Du hast mir erzählt, dass auf der Station alle Babies gestorben seien, weil die Krankenschwester alleine gewesen sei und keine Zeit hatte, die vielen Babies zu füttern. Deshalb seien sie alle nacheinander verhungert.
Und du hast ganz genau gesehen, wie ein kleiner Sarg nach dem anderen an deinem Zimmer vorbeigetragen wurde.

Ach Mutti....bestimmt warst du da wieder im 2. Weltkrieg....da hast du so viele tote Babies gesehen. Du warst damals ja ein Kind und später ein junges Mädchen und hast dieses unbeschreibliche Elend gesehen.
Bestimmt hast du dich auch an deine kleine Schwester Elinor erinnert, die bei euch zu Hause an Keuchhusten gestorben ist. Mitten im Krieg...und es gab keine Särge...keine kleinen weißen und keine großen braunen.
Zwei ganze Tage ist dein Papa rumgelaufen, bis er endlich einen Sargschreiner gefunden hat, der noch weißes Holz hatte.
Der hat dann einen weißen Sarg geschreinert, weil dein Papa so gebettelt hat.
Bis der fertig war, hat Elinor auf dem Wohnzimmersofa gelegen und du musstest als 8Jährige zum Pipimachen immer an der Leiche vorbei.
Wenn du darüber gesprochen hast, klang das alles so normal; eben so, als wenn so ein Schicksalsschlag einfach zum Leben dazugehörte.
Nur wenn du von Elinors Leben berichtet hast, dann habe ich gemerkt, dass du diese kleine Schwester so gerne bei dir gehabt hättest, trotz der Kriegswirren und dem nächtlichen Laufen in den Luftschutzbunker.
Elinor muss wunderschön gewesen sein, ich kann sie mir sogar vorstellen. Diese großen strahlend blauen Augen, die immer so funkelten, wie du sagtest. Und dazu diese langen schwarzen Locken. Ungewöhnlich für die arische Rasse, hast du immer ironisch gesagt und man konnte dieses "nicht verstehen können" deutlich spüren.
Und als Elinor mit 28 Monaten starb, soll sie im Sarg wie ein wahrhaftiger Engel ausgesehen haben.

Mutti....Elinor IST ein Engel, ganz ganz sicher!
Auch wenn ihr Grab längst nicht mehr vorhanden ist!

Und dann kamen die furchtbaren Hungerjahre....du hast Gras gesammelt und daraus hat deine Mama dann eine Art Spinat gemacht...und Brot gab es immer nur früh morgens um 6.00 Uhr....das alles hat sich in deinem Kopf eingebrannt und nun kommt es wieder ans Tageslicht.
Es tut mir so leid, Mutti, dass du keine schönere Kindheit und Jugend hattest!

Als dann später das Krankenhaus-Essen an dein Bett gebracht wurde, hast du nicht gegessen, du hast gestopft, gestopft, gestopft....bis du husten musstest.
Du hattest solche Angst, dass es für lange Zeit nichts mehr geben würde.
Ich hab dich gelassen, auch wenn ich dich gerne gebremst hätte.
Du hast mir ja so oft vom Hungern erzählt, da konnte ich einfach nichts sagen.

Kurz bevor ich nach Hause ging, hast du dann über Schmerzen geklagt. Ich hab dann nachgesehen und hab dann den Druckverband ein ganz kleines bisschen gelockert.
Du hattest nämlich schon dicke blau-schwarze Striemen über dem Oberschenkel und dem Bauch. Kein Wunder, dass dir das wehtat!
Aber ich hab ja dann doch noch die Krankenschwester geholt, damit sie sich das ansieht. Und sie hat dann sogar noch mehr gelockert.
Dann warst du zufrieden und bist wieder eingeschlafen.

Ich hab dich noch einmal angesehen und es gab wieder einen Stich ins Herz.
Warum werden deine Arme und Hände nicht dünner? Sie sind so schrecklich dick mit Wasser gefüllt. Die Finger werden schon langsam bläulich, warum auch immer.

Wenn du morgen wieder einen klaren Moment hast, dann werde ich dir erzählen, dass das Krankenhaus für dich einen Spezial-Rollstuhl bestellt hat.
Ich glaube, darüber wirst du dich freuen, denn der ist besonders dick gepolstert und hat eine spezielle Vorrichtung für die Füße. Da kann man sogar mit dickem Gips drin sitzen.

Ich hoffe inständig, Mutti, dass du wenigstens noch ein paar Mal darin sitzen kannst und ich dich im Krankenhauspark ausfahren kann.
Du warst ja schon so lange nicht mehr draußen.

Aber wir werden sehen, nicht wahr, Mutti?
Geduld ist zwar nicht deine Stärke, aber momentan bist du sowieso meistens in deiner eigenen Welt.

So Mutti, ich denke, du schläfst jetzt.
Und falls nicht, dann denk dran: Deine "Jüngste" gibt ALLES, damit es dir einigermaßen gut geht.
Irgendwie schafft sie das....irgendwie.....versprochen!

Norma
Diagnose Brustkrebs Nov. 2001
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