Einzelnen Beitrag anzeigen
  #324  
Alt 17.03.2014, 11:24
Phoenix1989 Phoenix1989 ist offline
Neuer Benutzer
 
Registriert seit: 17.03.2014
Beiträge: 7
Standard AW: Du fehlst mir, und ich möchte von Dir erzählen

Lange Zeit war ich hier nur stummer Beobachter, habe entsetzt von Dingen gelesen, die noch kommen würden, und Wahrheiten von mir fern gehalten, von denen ich nichts wissen wollte. Immerzu fühlte ich mich ausgenommen von dem Schrecken, den diese Krankheit mit sich bringt.

Heute aber schreibe ich hier als eine von euch, heute bin auch ich Hinterbliebene. Und obwohl ich immer geglaubt habe, dass ich verschont bleiben würde von dieser ganzen, großen, entsetzlichen Sinnlosigkeit, fiel auch ich ihr zum Opfer.

Warum ich ausgerechnet heute, sechs Monate danach, darüber schreibe, ist mir selbst nicht ganz klar. Aber irgendwie hat man doch das Gefühl, dass man erst jetzt zu begreifen beginnt, was passiert ist, oder? Ich fühle mich in der letzten Zeit beinahe so, als würde ich aus einer Art schwerer Trance erwachen. Als wäre ich monatelang in einem Wattebausch gelegen, in der alles nur ganz dumpf zu mir durchgedrungen ist. Erst in den letzten Tagen, hat mich etwas wachgerüttelt. Und jetzt fühle ich all den Schmerz noch intensiver als davor.

Heute möchte ich Euch von meiner Oma erzählen, einem Menschen, der so besonders war, wie auch Eure Verstorbenen Lieben, und doch war er ganz anders. Meine Oma war eine Kämpferin. Sie war stark, und ging erhobenen Hauptes durch diesen Horror. Ich will Euch alle mit Details verschont lassen, denn wenn uns etwas verbindet, dann doch dieses Wissen, diese Bilder, die wir jeden Tag in uns tragen. Warum soll ich Euch denn noch mit meinem Ballast beladen, wo Ihr doch selbst schon so schwer zu tragen habt? Außerdem zählt doch nur, wer diese Menschen waren, bevor sie krank wurden. Was meine Oma war, das war sie ganz ohne den Lungenkrebs. Die Krankheit hat sie nicht definiert, wenn sie sie auch gezeichnet hat. Als meine Oma die Diagnose bekam, begingen wir alle einen furchtbaren Fehler. Wir wollten stark sein vor ihr, wollten bahnbrechenden Optimismus zeigen, obwohl es uns doch das Herz brach. Wir ließen ihr keinen Raum, über ihre Ängste zu sprechen, weil wir es weder hören, noch wahrhaben wollten. Und wenn sie vom Tod sprach, dann blockten wir ab. Damit kämpfe ich seither jeden Tag. Denn ich habe das Gefühl, dass, obwohl ich bei ihr war, ich sie damit alleine ließ. Dazu kommt dieses schreckliche Bewusstsein, dass man sich selbst jede Sekunde belogen hat. Kennt ihr das?

Man hat sich gesagt, dass doch sowieso noch ewig viel Zeit bliebe. Dass sie, oder er, doch gar nicht so schlecht aussehe. Dass Ärzte versagen, wo Hoffnung anfängt. Dass Wunder beginnen, wenn Rationalität endet. Wenn ich aber heute Fotos der allerletzten Tage mit ihr betrachte, dann bin ich einfach nur schockiert. Mir stockt der Atem, wenn ich sehe, dass ihre wunderschönen, großen, stählern blauen Augen in dunklen Höhlen gelegen hatten und sie nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Trotzdem hat sie bis zum Schluss die Kraft aufgebracht, uns zu trösten!! Sie hielt uns in Armen und ohne etwas zu sagen, sprach sie uns all ihre Liebe aus. Meine Oma war so stark, dass sie uns alle glauben ließ, dass es wohl doch nicht so schlecht um sie stehe! Wir waren so furchtbar blauäugig, dass wir uns doch tatsächlich gefragt haben, was wir nach den sechs Monaten Hospiz, die man als potentiell Sterbender dort verbringen darf, ehe man entlassen wird, mit ihr anstellen würden. Sollten wir uns um eine ganztägige Pflege für zu Hause bemühen? Würde das Pflegegeld ausreichen? Wohin mit ihr, wenn im Hospiz kein Platz mehr war für sie? Doch schon nach achtzehn Tagen im Hospiz zeigte sich, dass der Krebs über unseren Optimismus siegen sollte. Meine Oma war einfach das, was man nach diesen physischen Strapazen sein darf: Meine Oma war müde. Und so legte sie sich für viele Tage schlafen, bis sie ihre Augen im Kreise ihrer ganzen Familie zum allerletzten Mal öffnete, um sie im intimen Beisein ihrer zwei Töchter schließlich für immer zu schließen.

Ich kämpfe jeden Tag mit gewissen Bildern, die mich seitdem nicht mehr loslassen wollen. Denn schlimm ist nicht das Sterben, schlimm ist nur alles, was kurz davor kommt. Auch wenn sich meine Oma nichts davon anmerken ließ. Und ich kann nur jedem Menschen, jedem Angehörigen empfehlen, diesen Weg gemeinsam mit den Sterbenden zu beschreiten. Denn obwohl vieles, was ich gesehen habe, noch an mir nagt, so zehre ich doch unendlich viel von der Erfahrung, sie nie alleine gelassen und ihr alles gesagt zu haben. Ich habe auch daraus gelernt. Und heute trage ich sie in Form von Tinte direkt unter meinem Herzen. Ihr Name ist ein blauer Schriftzug, der mir, genau wie sie, unter die Haut geht. Und manchmal, wenn ich Angst habe, oder mich schwach fühle, dann spüre ich ihren Namen auf meiner Haut Brennen, erinnere mich daran, wie stark sie war, wie stark alle diese Menschen sind, die von dieser Krankheit, egal in welcher Form, betroffen sind, und mache meinen Mund auf, um ihr Andenken zu ehren. Und das ist der größte Trost, der mir bleibt. Sie lebt weiter, durch mich, durch uns alle, jeden Tag, bis auch mein Herz einmal zu schlagen aufhört...und vielleicht noch darüber hinaus

Viel Kraft, Stärke und vor allem Liebe wünsche ich allen, die diesen Weg schon gegangen sind und auch jenen, vor denen er noch fremd und womöglich erschreckend da liegt. Vergesst nie, Abschied nehmen zu können, kann auch ein wunderbares Geschenk sein. Ein Geschenk, dass man nicht vergeuden sollte.

Vielen Dank an alle, die mir mit ihren Forenbeiträgen so sehr geholfen haben, ohne es zu wissen! Ihr seid richtige Engel! Ich fühle mich Eich allen sehr verbunden.

In ewiger Dankbarkeit,

Eure Rafaela
Mit Zitat antworten