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Alt 07.12.2005, 12:23
Barbara 64 Barbara 64 ist offline
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Standard Tschüss Papa

Lieber Papa,

heute vor 13 Jahren, es war Dein 63. Geburtstag, begann Dein letztes Kapitel. Neun Monate zuvor die Diagnose, Lungenkrebs mit Verdacht auf Metastasen in der Leber... Chemo, Bestrahlungen, Metastasen in den Knochen, dann in der Wirbelsäule und schließlich im Gehirn... Du hast gekämpft und gehofft, und an diesem 7. Dezember 1992 hast Du die letzte Kontrolle über den Kampf verloren.

Du warst kein netter Mensch, für vieles in Deinem Leben auch kein guter. Du hast immer den starken Mann gegeben, und tief in Dir warst Du voller Angst und schwach. Für mich warst Du in vielerlei Hinsicht mein Vorbild, warst, wie ich sein wollte und wie ich auf keinen Fall sein wollte... Ich bin Dir ähnlich geworden mit den Jahren, in manchen Winkeln meiner Seele kann ich Dich klar sehen. Ich habe gelitten unter Deinen Schattenseiten, und ich bin an ihnen gewachsen.
Es gibt Erinnerungen an die Jahre mit Dir, gute und schlechte, über manche kann ich mich freuen, bei anderen läuft es mir heute noch kalt den Rücken herunter.

Unsere letzte Zeit war sehr nah, Du konntest all die Bedürftigkeit in Dir zulassen und das Nehmen genießen. Wir haben kaum über Deine Krankheit gesprochen, Du hast mit keinem aus der Familie wirklich geredet, zumindest hat Mama das immer gesagt. Doch Du hast mir vertraut, in Deinen - zunehmend kürzeren - klaren Momenten habe ich das gespürt. Und Du hast wohl auch gewußt, daß Du gehen würdest Du hattest alles geregelt, alles wichtige aufgeschrieben und in den Ordner geheftet, von dem Du wußtest, daß wir hineinschauen müssen... wofür also reden. Du hast Dein ganzes Leben nicht 'unnötig' geredet, wofür also über das Unabänderliche sprechen...
Mama hatte dafür gesorgt, daß die Ärzte mir gesagt haben, daß Du sterben wirst und daß ich mich dem stellen muß...
Ich glaube, ihr ging es auf die Nerven, daß ich nicht sie bedauert habe für den nahen Verlust, sondern nur Dich gesehen habe und das, was Du erfahren mußtest, daß ich Dich nicht aufgegeben habe.
Das Arztgespräch hat mich völlig fertig gemacht... Es war nicht das, was sie gesagt haben, sondern wie. Und es war die Tatsache, daß Mama erst zufrieden war, als ich mit dem Weinen nicht mehr aufhören konnte... Sie dachte, ich hätte nun endlich verstanden... und wollte mich trösten... Sie dachte, sie und ich könnten nun endlich gemeinsam traurig sein über das, was kommen würde, könnten uns gegenseitig bedauern... Es war das Ende meines Mitgefühls für sie...

Ich habe gewußt, daß Du nicht mehr gesund wirst, Papa, ich hatte da gar keine Illusionen, und ich wollte Dich auch nicht halten. Ich wollte nur, daß Du auf eine menschenwürdige Art sein konntest, solange Du warst. Ich wollte Dich mit nach Hause nehmen, nicht, um Dich gesund zu pflegen, sondern um Dich da zu haben, wo Du hingehörtest...
Es hat nicht sollen sein, und so war ich jeden Tag bei Dir im KKH, habe Dir alles gebracht, was Du wolltest, und mit Dir 'gegessen'... Ich weiß noch, Du wünschtest Dir Tütensuppen, vermutlich, weil sie so extrem gewürzt sind und Du keinen guten Geschmackssinn mehr hattest... Eine Freundin, die mich damals unterstützt hat, hat Dir einmal Abends die Suppe gebracht, ich konnte nicht kommen, sie war sehr gesundheitsbewußt und hat Dir tatsächlich gesagt, daß diese Suppen gar nicht gesund sind und wahrscheinlich sogar krebserregend... Ich kann heute noch lachen darüber, sicher, es ist bitter, wie dogmatisch Menschen sein können, wahrscheinlich hätte sie Dir die Suppe nicht gebracht, wenn Du ihr Vater gewesen wärst, aber Deine Antwort hat sie umgehauen, denn Du sagtest 'Das haben wir schon, sag' was anderes.' Ja, ich kann heute noch darüber lachen, über Deinen Humor, der manchmal so schwarz war und oft so treffend...

Ach Papa, ich weiß nicht, ob es besser gewesen wäre, zu reden... Ich habe ja lange gar nicht darüber nachdenken wollen, ob Du sterben mußt. Ich habe gar nicht in die Zukunft geschaut, es ging von Monat zu Monat, von Woche zu Woche, von Tag zu Tag... Erst ganz am Ende habe ich tatsächlich geglaubt, daß es nur um Stunden geht, weil ich gesehen und gespürt habe, daß Du gehst, obwohl Du seit längerer Zeit mal wieder über den ganzen Tag klar 'da' warst...
Ich wüßte gern, ob Du wirklich nicht reden wolltest oder ob Du geschwiegen hast, weil ich davor Angst hatte. Ich erinnere mich an einen Dialog zwischen uns: Ich hatte Dir einen Zahnputzbecher ins KKH gebracht, Du wolltest einen eigenen. Ich fragte Dich 'Ist der ok ?' und Du sagtest 'Bis Weihnachten wird er halten.'. Ich kann die Beklemmung, die mich in diesem Moment erfaßt hat noch heute spüren... Und ich fragte Dich tatsächlich 'Denkst Du, daß Du dann noch hier bist ?' Danach haben wir beide nichts mehr gesagt. Und ich weiß bis heute nicht sicher, worüber wir wirklich gesprochen haben... Sicher ist nur, daß der Becher gehalten hat (er ist knallrot, er hat bis heute gehalten, ich habe ihn noch) und daß Du Heiligabend gegangen bist. Bis Weihnachten... War das Dein Ziel ? Noch einmal Weihnachten ? Oder war das das Datum, das Du bei deinem kurzen Ausflug in die Welt zwischen den Welten, diesen entsetzlichen Minuten heute vor 13 Jahren, im großen Buch des Kommens und Gehens gelesen hast ?

Heute vor 13 Jahren begann der Anfang vom Ende...

Todes- Erfahrung

Wir wissen nichts von diesem Hingehn, das
nicht mit uns teilt. Wir haben keinen Grund,
Bewunderung und Liebe oder Haß
dem Tod zu zeigen, den ein Maskenmund
tragischer Klage wunderlich entstellt.
Noch ist die Welt voll Rollen, die wir spielen.
Solang wir sorgen, ob wir auch gefielen,
spielt auch der Tod, obwohl er nicht gefällt.
Doch als du gingst, da brach in diese Bühne
ein Streifen Wirklichkeit durch jenen Spalt
durch den du hingingst: Grün wirklicher Grüne,
wirklicher Sonnenschein, wirklicher Wald.
Wir spielen weiter. Bang und schwer Erlerntes
hersagend und Gebärden dann und wann
aufhebend; aber dein von uns entferntes,
aus unserm Stück entrücktes Dasein kann
uns manchmal überkommen, wie ein Wissen
von jener Wirklichkeit sich niedersenkend,
so daß wir eine Weile hingerissen
das Leben spielen, nicht an Beifall denkend.

Rainer Maria Rilke 1907
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