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Alt 04.09.2005, 10:04
Briele Briele ist offline
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Registriert seit: 15.08.2005
Beiträge: 192
Standard AW: Nicht nichts ohne dich, aber nicht dasselbe.......

Septemberblues

Heute vor sechs Jahren kam meine Mama ins Krankenhaus und einen Monat später war sie tot. Seitdem ist mein Leben „nicht nichts ohne sie, aber weniger“. Auch meine September sind seitdem andere.

Die „September“ waren meine Monate gewesen. Monate, die einen Ausklang, einen neuen Beginn mit sich brachten. In Kinder und Jugendjahren, das Ende der langen Ferien, Beginn des neuen Schuljahres. Ich ging nicht ungern in die Schule, vor allem im September nicht. Ich freute mich auf die neuen Bücher, so viele gab es ja nicht, die neuen Hefte, zum Anziehen war auch was dabei.

Nach der Schulzeit waren es einige September, in denen ich ins Ausland ging und dann, im Berufsleben, waren in den Septemberwochen über viele Jahre immer die highlights des Jahres. Konferenzen, Kongresse, bei denen ich richtig wichtig sein konnte.

Ein neuer Beruf brachte es in den letzten zwei Jahrzehnten mit sich, dass der September das Ende der Saison einläutete, ich mein Geld zählte und hoffte, damit gut über den Winter zu kommen, viel von dem tun zu können, was ich mir ausgesucht hatte.
Es war der Monat, in dem ich mir alle Kataloge für Kurse, Seminare usw. zuschicken ließ, in dem ich das nächste halbe Jahr plante.

Dann kam der September 1999. Im August war es Mama nicht gut gegangen, aber das war schon öfter gewesen, ein paar Tage nicht gut, dann wieder besser. Sie war immer auf. Tat, was sie immer tat, also viel.
Abends, um 19.00 gab es eine regionale Sendung im Fernsehen, die Papa gerne sah. Zu Beginn und am Ende der täglichen Sendung war immer ein Bambambambam Ton und dann hieß es: noch 129, noch 128 .... Tage bis zur Jahrtausendwende. Jeden Tag ein Tag weniger.

Mama badete gerne. Lag eine Stunde in der Wanne und las. Wenn sie raus kam war sie nicht rot verschrumpelt. Nun bereitete ich jeden Abend das Badewasser für sie vor. Gab ein wenig von ihrem Diorschaumbad hinein, dann Muskatellersalbeiöl, Lavendelöl. Den Duft hab ich noch in der Nase. Ich kniete dann vor der Wanne, legte meine Hand auf ihren Bauch, in dem das Ungeheuer saß.

Als ich am ersten Sonntag im September ins Haus kam, lag auf dem Küchentisch ein Zettel. „mir ist gar nicht gut“ stand drauf. Sie hatte ihn geschrieben, weil sie wußte, dass ich früh kommen, sie aber nicht wecken werde. Ich hatte den Zettel in der Hand und dachte, dass ist die letzte schriftliche Nachricht meiner Mama an mich. Die letzte. Nachdem wir mehrere tausende Briefe gewechselt hatten. Ich zerknüllte ihn und warf ihn weg. Ging in Mamas Schlafzimmer. Sie sagte, es sei eine schreckliche Nacht gewesen, sie habe zweimal unglaubliche Mengen Flüssigkeit erbrochen. Habe Schmerzen, sei schwach. Möchte baden. Wir zelebrierten unser Baderitual. Anschließend übergab sie sich wieder. Wir waren beide fassungslos über die Menge.

Mein Bruder fuhr mit ihr ins Krankenhaus. Ich ging mit ihr hinaus aus ihrem Haus, durch ihren Garten, in dem noch viele ihrer Blumen blühten. Es war ein schöner, heißer Spätsommertag. Sie hatte eine beige Hose an, ein weißes Oberteil. Der Schweiß stand ihr auf der Stirne, die Hände waren kalt. Ich sollte bei Papa bleiben, dem es auch nicht gut ging.

Am frühen Nachmittag legte ich mich ins Bett. Mein Bruder rief mich an, sagte, es sieht nicht gut aus. Es gäbe keine Operation mehr, keine Therapie. Man werde sie mit nichts mehr plagen, auch keinen weiteren Untersuchungen, wolle versuchen sie schmerzfrei zu halten. Ich legte auf und wußte, nun beginnt das Sterben. Kurz darauf rief Mama an. Sie fühle sich bereits sehr gut, eine Infusion hängt, bestimmt würde sie bald wieder daheim sein. Heute soll ich nicht kommen, sie möchte schlafen.

Es ist sechs Jahre her. Manchmal mache ich am Sonntag ein Nickerchen. Immer wenn ich es tu, sind die Gefühle von damals da.

Und dann begann ein September, der wie alle meine September Ausklang und Neubeginn bedeutete. Aber mein Gott, mit welchem Schmerz, welchem Entsetzen, welcher Verzweiflung.

Die Tage begannen nun sehr früh für mich, endeten spät. Ich übernahm alles was sie getan hatte. Die Nachmittage gehörten Mama und mir. Ich habe kein Auto und fuhr die 30km mit dem Bus zu ihr. Wenn der Bus noch 15 Minuten vom Bahnhof der Kleinstadt entfernt war, wenn er sich so die Bergstraße talabwärts schlängelte, dann sah ich schon die Gebäude des Krankenhauses und ich sah auch meine Mama, wie sie da lag mit ihrem ständigen Begleiter, dem Infusionsständer.

In der ersten Zeit haben wir noch viel gesprochen. Es wurde immer weniger. Viel Morphium. Einmal sagte sie zu mir, weißt du, die tun hier alles für mich, aber irgendwie machen sie mich fertig. Ich kann nicht mehr reden. Mich nicht mehr mitteilen. Ich sagte, Mama, was möchtest du mir sagen. Und sie sagte, mit einer Sehnsucht in der Stimme, die ich nie vergessen werde, ach, so vieles! Und ich sagte, Mama, wir haben doch alles gesagt, und sie meinte, da hast du auch wieder recht.
Nun gab es kaum mehr eine Tätigkeit die ich für sie machen konnte. Ganz weniges:
Ihre Wäsche machen, etwas bringen. Es gab keinen Saft, keinen Tee, den ich nicht brachte. Es schmeckte ihr nichts. Nachdem alle Lutschbonbons dann doch nicht so waren, meinte sie, vielleicht solche, die man früher hatte, die wie kleine Zitronenspalten aussehen und gelb und orange sind. Nach vielen Telefonaten hatte ich sie, aber sie waren auch nicht gut.

Das „Tun“ war zu einem Ende gekommen. Wir waren zurückgeworfen auf unser „Sein“.

Ich wollte, dass sie heimkommt. Zweimal, mit viel Aufwand, viel gutem Willen einer Ärztin geschah es. Sie war lieber im Krankenhaus. Es war dort wie in einem Hospiz, ich werde den Leuten dort bis ans Ende meiner Tage dankbar sein.

Es kam die Zeit, da gab es wirklich gar nichts mehr zu tun. Ein Fenster aufzumachen, oder zu schließen. Eincremen. Wir waren einfach da und warteten auf den Tod. Sie lag, ich saß, Hand in Hand, die meiste Zeit hatten wir beide die Augen geschlossen, manchmal tauchten unsere Blicke ein in den anderen. Ich streichelte sie, ich legte meine Wange an die ihre. Wenn ich etwas bedaure, dann, dass ich nicht einfach das andere Bett an ihres geschoben habe, um mich hineinzulegen und ihr noch näher zu sein.

So wenig wir sprachen, um einen Satz bin ich so dankbar. Als ich wieder einmal zu ihr sagte, Mama, ich hab dich so schrecklich gern, da sagte sie, ich dich auch, daran wird sich auch nie etwas ändern, du musst dir das merken, das wird immer so bleiben.

Tag für Tag war dieser September ein schöner, sonniger, warmer gewesen. Tag für Tag fuhr ich mich dem Bus hinaus, saß vier Stunden bei Mama, dann ging ich. Oft sagte ich zu ihr, heute schlaf ich hier und sie schickte mich heim zu Papa. Ich ging zum Bus, kaufte mir eine Tüte Eis und fuhr wieder zurück. Der Bus fuhr langsam die gewundene Straße bergauf und nach 20 Minuten sah ich hinunter auf die Stadt, auf das Krankenhaus, in dem meine Mama lag. Und immer dachte ich, dort liegt meine Mama auf ihrem Schmerzenslager. Auch wenn sie keine Schmerzen hatte. Ich war immer froh wenn kein Mensch mitfuhr der mit mir reden wollte, mich fragen wollte.

Auch heute, sechs Jahre später, ist mein erster und letzter Blick auf den Krankenhauskomplex, wenn ich die Straße runter und dann wieder rauf fahre.

In mir war ein ständiges Zittern. Ich saß neben Mama und merkte wie ihre Hand, ihr Arm von Tag zu Tag leichter wurde. Trotzdem war sie noch immer rund.
Sie sah so lieb aus, wie sie immer ausgeschaut hatte, sie roch so gut wie immer. Ich nicht mehr, ich konnte mich so oft waschen und dauernd frisch anziehen wie ich wollte, ich roch. Nach Angst. Ich war entsetzt, verzweifelt über die Gegenwart und ich hatte schreckliche Angst vor der Zukunft, auch davor, dass ich nicht bei ihr bin wenn sie stirbt.

Es ging sich aus. Ich war bei ihr. Wir hatten das Glück. Vielleicht schreibe ich darüber im Oktober.

Heute vor sechs Jahren begann ein September an dem jeden Tag Karfreitag war. Seit sechs Jahren sage ich mir, wir müssen das alles nicht noch einmal durchleben. Mama nicht. Ich nicht. Wir haben es schon durchlebt, wir haben es vollbracht.

Briele
 

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