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Alt 04.10.2005, 00:05
Briele Briele ist offline
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Registriert seit: 15.08.2005
Beiträge: 192
Standard AW: Nicht nichts ohne dich, aber nicht dasselbe.......

Liebe Mama,

heute ist es sechs Jahre dass Du tot bist. Seitdem habe ich viel geschrieben, immer um Dich herum. Über meinen Schmerz, meine Trauer, über die Träume, ich habe für mich Geschichten aufgeschrieben über Dich. Seit einem halben Jahr mach ich es hier. Sozusagen öffentlich. Es wäre Dir peinlich gewesen. Aber nun nicht mehr. Weil Du siehst wie viel Trost ich hier bekommen habe und nicht nur das, ich habe hier Alina gefunden. Wir konnten einander helfen in unserem Mamaschmerz. Und weil Alina und ich hier waren, hat Isa uns gefunden und wir sie. Nun sind wir Freundinnen.

Aber ist es nicht verwunderlich, dass ich nach sechs Jahren das erste Mal einen Brief an Dich schreibe? Fast zehn Jahre haben wir einander täglich geschrieben, später einige Male in der Woche, es waren tausende Briefe die wir ausgetauscht haben.

Mama, der 4. Oktober ist Dein Todestag. Du bist um 04.30 gestorben. Eigentlich bist Du kurz nach 04.00 gestorben, aber ich habe erst eine halbe Stunde später geläutet.
Der Tag davor war ein Sonntag. Es war ein Tag wie heute. Ein schöner, sonniger Herbsttag.

Ich bin am frühen Nachmittag zu Dir ins Krankenhaus gekommen. Die Schwester war bei Dir, massierte Deine Beine. Als ich vor Deinem Bett stand, hast Du Dich halb aufgerichtet, hast gesagt, du bist schon da, wie du schön aussiehst, wie ich dich lieb hab! Es klingt pathetisch, aber es war ein entrückter, ein seelenvoller Ausdruck in Deinem lieben Gesicht. Ich hab Deinen Rücken eingecremt, Deinen Po und alles an Dir war schön wie immer.

Wir waren dann einfach da. Du und ich. Und haben gewartet. Gemeinsam geatmet. Ein und aus und ein und aus. Blicke getauscht. Ein Lächeln. Hand in Hand. Wange an Wange. Wenige Worte.
Zwei Schwestern kamen, richteten das Bett, Du wolltest ins Badezimmer. Sie wollten eine Schüssel bringen, nur das nicht. Das erste Mal und es war auch das letzte Mal, Mama, kamst Du nur mit Hilfe ins Badzimmer. Rechts und links eine Schwester und als Ihr zurückkamt, bist Du stehen geblieben, hast mir einen verzweifelten Blick zugeworfen.

Wieder im Bett sagte ich zu Dir, was ich in den letzten Wochen etliche Male gesagt hatte. Ich sagte, Mama, heute schlaf ich hier. Und Du sagtest ja. Das erste Mal.
Ich war vorbereitet. In Deinem Schrank hatte ich meine Sachen, Nachthemd, Wäsche, Kosmetiksachen, Kerzen.

Du hast gedöst, geschlafen, schwer geatmet. Wenn ein Arzt, eine Schwester Dich laut ansprach, dann hast Du reagiert.

Am Abend sagten die Schwestern, sie müssen jetzt einen Stock höher, würden die Glocke aber hören. Du bist aufgewacht, wolltest aufstehen, Pipi machen. Ich sagte, bleib bitte liegen und bin eine Schüssel holen gegangen. Du hattest nicht die Kraft Dein Becken hochzuheben, damit ich die Schüssel unter Dich bekomme. Ich hab dann meine Arme unter Dich gelegt und Dich hoch gehoben. Es wird nicht lange gedauert haben, aber ich spüre es wie heute und die Gedanken die ich in mir hatte, werden mir immer bleiben. Ich hob Dich hoch und spürte Deine Wärme, Deine Weichheit, Mama, ein Teil Deines Körpers war zum ersten Mal in meinen Armen und ich wußte es wird das letzte Mal sein. Die Szene ist festgefroren in meinem Kopf, in meinem Herzen. Ich sagte mir, vergiß es nicht, vergiß es nicht, präg es dir ein, wie es sich anfühlt.

Ach Mama, Deine schlimmen Befürchtungen, für sanitäre Belange die Hilfe anderer zu benötigen, sind nicht eingetreten. Bis am letzten Tag hast Du Dich geduscht und das eine Mal Pipi auf der Schüssel war mit mir.

Der Tag war schön gewesen. Am Abend kam ein Sturm auf, der Wind heulte richtig. Ich legte mich in das andere Bett. In die Nierenschale – warum heißt sie nicht Spuckschale – stellte ich ein Teelicht. Der Raum war in ein mildes Licht getaucht.

Auf einer Seite Deines Bettes stand Dein Infusionsständer. Die andere Seite war frei. An die stellte sich die Schwester wenn sie kam um den Blutdruck zu messen.
Bis ans Ende meiner Tage wird es mir bitter leid tun, dass ich das zweite Bett nicht ganz an Deines heranrückte, dass wir nicht eng beisammen lagen, Du meinen Körper gespürt hast.

Ich schlief ein bisschen. Dann stand ich wieder auf, setzte mich zu Dir. Hielt Deine Hand, streichelte Dich. Ich legte einen nassen Waschlappen auf Deine Stirn, ich cremte Deine Füße ein, sprach mit Dir. Befeuchtete Deine Lippen, steckte meinen Finger in Deinen Mund um ihn zu befeuchten. Erschrak, wie rauh es sich anfühlte. Später hab ich erfahren, man kann Butter nehmen. Ich glaube Du hättest das nicht gemocht, den Buttergeschmack.

Die Schwester maß wieder Deinen Blutdruck und sagte zu mir, er steht 60 zu 40 aber ihr Herz schlägt ganz ruhig. Ich hörte beides, aber in mir schwang nur ... ihr Herz schlägt ganz ruhig, ihr Herz schlägt ganz ruhig.

Du konntest gut singen, Mama. Hast mir oft erzählt wie schön das war, in Deiner Kindheit in Südtirol, wie Leute abends auf ihren Balkonen, oder vor den Häusern saßen, einige begannen zu singen und die anderen fielen mit ein. Fandest es schade, dass es das so gut wie nicht mehr gibt. Als ich ein Kind war hast Du mir oft vorgesungen. Besonders gerne hörte ich ...sah ein Knab ein Röslein stehn... und dann weinte ich immer. Als ich das Lied wieder einmal bei Dir bestellte, sagtest Du, nein, das sing ich nicht mehr, da musst du immer weinen. Und ich meinte, doch, doch, ich wein ja so gerne!

Ich kann nicht singen, kenn keine Texte, aber da saß ich, Mama, und hab Dir ins Ohr gesungen. Ein seltsames Gemisch von Liedern.

Wir haben beide geschlafen, als ich wieder aufwachte hörte ich Dich ruhig, regelmäßig atmen. Ich stand auf, setzte mich zu Dir. Plötzlich veränderte sich die Atmung. Lange Intervalle. Ich legte eine meiner Hände auf Deine Brust, ganz leicht, die andere auf Deine Wange. Und dann hast Du nicht mehr eingeatmet. Bist hinüber geschlafen. Ich hab zu Dir gesagt, das hast Du jetzt gut gemacht Mama, das hast Du gut hingekriegt. Und dann hab ich Dir gesagt, was ich hier nicht schreibe, meine Worte der Liebe und des Dankes.

Ich hab geläutet, die Schwestern kamen, dann der Arzt, der viel bei Dir war. Er streichelte Deinen Arm und sagte zu mir, sie war bis zum Schluß eine Dame, ich werde sie nie vergessen.

Man fragte mich ob ich etwas brauche, eine Tablette, eine Spritze. Nein, das brauchte ich nicht.

Der Arzt brachte eine kleine Lampe, die einen angenehmen, milden Schein hatte. Dazu meine Kerze. Ich setzte mich zu Dir, legte meinen Kopf auf Deinen Bauch, steckte meine Hände unter die Decke, auf Deine warmen Beine und wartete auf meinen Bruder. Als er kam, ließ ich ihn mit Dir allein. Ging ins Schwesternzimmer, schrieb einen Brief an den Primarius mit der Bitte keine Obduktion durchzuführen.
Es wurde keine gemacht.

Mein Bruder sagte, wir müssen jetzt gehen. Deine Tasche hatte ich gepackt. Bis jetzt hatte ich nicht geweint. Nun sagte ich mit Tränen, aber ich kann doch nicht gehen und Mama einfach alleine lassen. Wir gingen.

Als ich vor dem Krankenhaus auf der Bank saß, wartete, bis mein Bruder mit dem Auto kam, fuhr ein Taxi vor und heraus stürzte eine Frau, rannte hinein ins Krankenhaus. Ich dachte, hoffentlich kommst sie noch rechtzeitig.

Du weißt ja Mama wie es mir in den Jahren erging und wie es mir heute geht. Der Schmerz war schlimmer als ich es mir je hätte vorstellen können. Wir konnten immer alles bereden. Und nun konnte ich nicht mit Dir über Deinen Tod reden. Der größte Kummer in meinem Leben und ich muß ohne Deinen Trost sein.

Mama, meine liebe, süße Mama, Du warst das Beste was mir in meinem Leben passiert ist.

Ah, Christ, that it were possible
For one short hour to see
The soals wie loved,
That they might tell us
What and where they be. (Tennyson)


Briele
 

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