Stammtisch

[Anemone]

Hallo an alle am Stammtisch,
wirklich schon ein Jahr? Mir kommt es so vor, als würde ich mich schon viel länger hier herumtreiben. Vor einem Jahr war ich gerade mal 12 Wochen WITWE (für mich immer noch ein grässliches Wort). Ich habe mich hier schnell zu Hause gefühlt. Warum? Weil ich hier so viel Verständnis gefunden habe für die Achterbahn meiner Gefühle, meinen Schmerz, mein unbarmherziges Trauertier, mein "Verrücktsein" und, und...
Geht es mir heute "besser"?? Manchmal hatte ich schon Tage, an denen ich mich besser fühlte - der Schmerz erträglich, fast im Hintergrund, ein bißchen Ruhe in der Seele, ein bißchen stille Freude im Herzen. Das Gefühl ist da, ich bekomme so ganz langsam das NEUE LEBEN in den Griff - dann entgleitet es mir plötzlich wieder, rutscht mir aus den Händen: Ich pack das einfach alles nicht. Warum muss ICH denn alles alleine machen, entscheiden, regeln? Die "anderen" (Freunde, Bekannte, Nachbarn...) haben doch auch jemanden, der ihnen hilft, die großen und kleinen Probleme des Lebens zu meistern. WARUM, verd... nochmal, muss ich das alleine? Mein Schatz wollte doch nicht gehen, wir wollten doch zusammen alt werden, wir wollten doch noch...
Das sind oft die Momente, in denen ich mich ganz still am Stammtisch niederlasse und feststelle: Nee, es gibt noch viele, die MÜSSEN auch alleine dieses und jenes... Und sie haben noch viel größere Sorgen als ich. Dann hör ich ganz schnell mit dieser sinnlosen WARUM-Fragerei auf, ärgere mich über mich selbst, weil ich mir sofort nach dem Tod meines Mannes geschworen hatte, nie, nie mehr WARUM? zu fragen, weil ich keine Antwort darauf bekommen kann. Ich hab es nicht geschafft, aber ich kann mir das verzeihen. Es gehört wahrscheinlich zu meiner Trauer dazu, dieses sinnlose WARUM.
Ich grüße Euch jetzt mal alle zusammen ganz lieb - schön, dass es Euch gibt, mein Platz am Stammtisch ist für mich eine prima Trauer-Therapie.
Ich wünsche Euch ein ruhiges, sonniges Osterfest.
Liebe Grüße,
Anemone