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Alt 25.02.2014, 21:08
Caput Caput ist offline
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Standard AW: Halbwaise als junger Erwachsener - Erfahrungsberichte

Hallo,

ich möchte hier in diesem Thread ganz gerne mitschreiben und erzähle euch deswegen zunächst meine Geschichte, bevor ich dann meine persönlichen Antworten auf Sonnenkinds Leitfragen geben möchte.

Ich habe meine Mutter im Juni 2012 mit 61 Jahren an Eierstockkrebs verloren. Zu diesem Zeitpunkt war ich kurz vor meinem 31. Geburtstag. Eigentlich sollte es der schönste Sommer meines Lebens werden… wir planten nämlich im Juni diesen Jahres zu heiraten (von daher zähle ich mich noch zu den „jungen Erwachsenen“, die dieses Schicksal leider teilen mussten). Aber leider kam es anders. Von der Diagnose bis zum Tod meiner Mutter vergingen noch nicht ganz 9 Wochen. Meine Mutter wurde nur wenige Tage nach der Diagnose operiert, es war eine sehr lange, sehr schwere OP (fast 10 Stunden). Da ich im Jahr zuvor 300 km von „zu Hause“ weggezogen bin, nahm ich mir gleich mal Urlaub um vor Ort zu sein. Ich bin Einzelkind, so gab es nur meinen Vater und mich, wir wurden begleitet von meinem damals noch Verlobten - mittlerweile meinem Mann. Nach der OP fuhren wir zur Klinik, wo uns gleich der Stationsarzt und der Operateur in Empfang nahmen (kein gutes Zeichen). Sie konnte nicht tumorfrei operiert werden und der Bauchraum war schon voller Metastasen. Zu allem Übel hatte meine Mutter während der OP auch noch einen Schlaganfall und war rechtsseitig gelähmt. Chemo unter diesen Umständen nicht möglich. Mit diesem Wissen gingen wir also zu ihr. Meine Mutter wollte das Ergebnis der Operation nicht hören, das würde sie zu sehr belasten, sie wolle sich einfach nur auf ihre Genesung konzentrieren, schließlich wolle sie auf meiner Hochzeit tanzen. Selbst über den Schlaganfall und die Lähmung wurde zunächst geschwiegen. Meine Mutter wollte im KH auch keinen Besuch haben, da sie nicht wollte, dass andere (noch nicht mal ihre Geschwister) sie „so“ sehen und sie nach eigener Aussage auch die Trauer der anderen nicht sehen mochte. Wenn wir vor ihr mit den Tränen kämpften, sagte sie: „Heulen könnt ihr noch genug wenn ich tot bin – jetzt nicht, ich komme hier wieder raus und freue mich auf die Hochzeit“. Sie kam nicht mehr aus dem Krankenhaus zurück. Die Hochzeit sagten wir 4 Wochen vor dem geplanten Termin ab (gegen den Wunsch meiner Mutter, die die ganze Zeit nur noch auf diesen Punkt hinarbeitete, wir mussten es ihr aber auch nicht mehr sagen, da sie zunächst ins Koma fiel und danach auch nicht mehr ihr volles Bewusstsein (Verwirrtheit) erlangte) und zwei Wochen später ist meine Mutter verstorben, sie hätte den geplanten Hochzeitstermin nicht mehr erlebt.

Die größte Angstphase hatte ich eigentlich in der Zeit vom ersten Verdacht über die Diagnose bis kurz nach dem Gespräch mit dem Chirurg. Ab dem Zeitpunkt dieses Gespräches (was eigentlich das sichere und schnelle Todesurteil bedeutete) durchlief ich alles wie in einen Film. Irgendwie unreal, irgendwie unscharf, mein Leben lief einfach weiter aber wie in völliger Leere. Im Unterbewusstsein war mir stets klar wie die Prognose lautete, selbst wenn das lange kein Arzt offen ausgesprochen hatte. Den Leuten gegenüber, meinem Vater und meiner Mutter gegenüber gab ich mich doch immer kämpferisch und hoffnungsvoll, so wie sich auch meine Mama gab und so wie sie es auch haben wollte.

Trauer habe ich eigentlich seit dem ersten Wiedersehen mit meiner Mutter nach der OP empfunden. Vielleicht ist es fies, denn sie war ja (noch) nicht tot, aber meine Mutter wie ich sie fast 31 Jahre lang kannte existierte nicht mehr. Meine geliebte Mama, die mich ein Leben lang begleitet und gut für mich gesorgt hatte – eine starke und lustige Frau – gab es nicht mehr. Meine nun gebrechliche und hilfebedürftige Mutter liebte ich genauso sehr und ich hätte alles getan um sie noch länger zu haben, ihr Fürsorge zurückzugeben und ihr trotz aller Widrigkeiten ein schönes Restleben zu ermöglichen –versteht mich hier nicht falsch – aber es fing nun einfach ein neuer Lebensabschnitt an und ich trauerte insgeheim schon ab diesem Zeitpunkt dem vorherigen Abschnitt nach.

Als meine Mutter im Beisein meines Vaters und mir verstarb, brach ich zunächst in Tränen aus, dann aber empfand ich sowas wie Erleichterung. Es ging mit sehr vielen Komplikationen rapide abwärts, ständig kamen neue schlechte Nachrichten und dann war das Leiden für sie vorbei. Die erste Zeit nach dem Tod meiner Mutter habe ich sehr rational und pragmatisch denkend verbracht. Zunächst war ich durch die anstrengende Zeit körperlich und seelisch extrem erschöpft, nachts schlief ich wie ein Stein. Über den Tag organisierte ich die Beerdigung, suchte den Grabstein aus, meldete Versicherungen, Konten, Abos etc. um bzw. ab. Ich habe mich auch recht schnell an ihren Kleiderschrank und andere Dinge „herangetraut“ und diese Sachen größtenteils verschenkt. Natürlich habe ich mir Andenken mitgenommen. Aber meine Mutter ist in meinem Herzen tief verankert – nicht in Klamotten, wie gesagt, hier hatte ich eine recht pragmatische Einstellung. Dieser Zustand hielt ca. 2 ½ Monate an.

Das Vermissen begann bei mir erst richtig als ich so langsam wieder im Alltag angekommen war. Ich erwischte mich häufig dabei zu denken, „ach das musst du Mama erzählen sobald du heimkommst“. Die Erkenntnis, dass dies nicht mehr möglich ist traf mich jedesmal wie ein Schlag. Auch die Gedanken, „dieses Lied würde Mama gefallen“, „der Pulli würde ihr stehen, „darüber würde sie sich freuen“ oder auch „das würde sie genauso schlimm finden“ endeten immer in der Erkenntnis, dass sie das alles nicht mehr erleben durfte und das macht mich auch heute noch unendlich traurig.

Meinen damaligen Job hatte ich erst wenige Monate vor der Diagnose meiner Mutter begonnen. Ich war noch in der Probezeit. Mein Arbeitgeber hat sich vorbildlich verhalten. Als es so rapide abwärts ging und ich mal wieder anrief um zu sagen, dass ich immer noch zu Hause bleiben werde (ich lebe und arbeite ja weiter weg von meinem Heimatort), sagte die Chefin zu mir „bleiben Sie solange es notwendig ist, das ist jetzt wichtiger als die Firma“. Auch nach meiner Rückkehr gab es kein böses Blut – weder von der Chefetage noch von den Kollegen. Ich arbeite übrigens immer noch gerne dort.

Ohne meinen Mann hätte ich diese Zeit nicht überstanden. Mein Vater war keine große Hilfe, wir sind zwar, während meine Mama krank war, eng zusammengerückt aber das war nach dem Tod meiner Mutter auch schnell wieder vorüber. Mein Mann hat mich immer begleitet und wenn er auch stundenlang vor der Intensivstation warten musste, er blieb und er hat sich nie beklagt. Durch den Umzug hatte ich kaum noch Freundschaften in der alten Heimat außer meiner besten Freundin. Sie hat zwar sehr viel mit mir telefoniert und sich auch gekümmert, aber ich hatte immer das Gefühl, dass sie mich nicht versteht und manchmal hätte ich mir einfach ein anderes Verhalten von ihr gewünscht. Ich kann das heute im Nachhinein nur noch schwer an einzelnen Dingen festmachen und ich glaube sie war völlig überfordert zumal sie noch nie einen engen Verwandten verloren hat. Der Tod meiner Mutter hat mich aber ein Stück von ihr entfernt. Einsam habe ich mich erst in der Trauerphase nach mehreren Monaten gefühlt. Die Phase wenn alle Menschen um einen herum denken, dass es jetzt „mal gut ist“ und man „über das Schlimmste hinweg ist“ und jeder erwartet, dass man wieder funktioniert.

Während der Erkrankung meiner Mutter konnte ich mir keine körperlichen Gebrechen erlauben. Ich musste funktionieren und mein Körper hat das auch mitgemacht, nachts schlief ich vor Erschöpfung wie ein Stein. Meine Mutter ist jetzt seit mehr als 1½ Jahren verstorben – jetzt fangen die körperlichen Auswirkungen an. Ich war schon als Kind herzkrank und habe eine sehr schwere OP hinter mir, ich hatte seit meiner Kindheit keine Beschwerden mehr. Doch seit letztem Jahr leide ich unter Herzrasen und diversen nervösen Störungen, ich muss leider auch wieder am Herzen operiert werden. Gut, dass meine Mutter diese Ängste nicht mehr miterleben muss. Außerdem habe ich sehr viele „graue Haare“ bekommen (und leider auch Falten), mein komplettes Deckhaar ist von schlohweißen Haaren durchzogen. Mein Vater wechselte durch den Kummer eigentlich auch von einem Tag auf den anderen von graumeliert auf weiß, selbst mein Mann hat über diese Zeit graue Haare bekommen.

Hm… inwiefern habe ich mich bzw. hat sich meine Lebenseinstellung verändert? Das ist schwer zu sagen, ich war schon immer ein eher ernster und nachdenklicher Mensch, das hat sich noch ein Stück weit verstärkt. Ich habe gelernt, dass ich unheimlich viel leisten kann, wenn ich denn muss. Ich habe gelernt, dass ich sehr stark sein kann, wenn ich es sein muss. Und ich weiß, dass ich einen tollen Mann geheiratet habe, den ich stets schätzen sollte. Vielleicht ist das sogar die Erkenntnis, die mich am meisten festigt. Ich habe gelernt, dass das Leben kurz sein kann und dass ich mehr auf mich achten muss – seelisch als auch körperlich. Ich wünschte diese Krise hätte mich „weise“ werden lassen (also nicht nur die Haare), so dass ich die Dinge in meinem Leben gelassener angehen und sehen kann oder dass ich mein Leben jetzt besser schätzen und genießen kann. Hat sie aber nicht, ich bin eher unausgeglichen, ungeduldig und leicht reizbar – ich arbeite aber daran.

Während der Erkrankung und nach dem Tod meiner Mutter, haben mir am besten Menschen getan, die mit mir Schweigen konnten. Eine ältere Arbeitskollegin schaute mich nur an und strich mir kurz über den Arm, das hat mir persönlich mehr gegeben als tausend Worte und Aufmunterungen von anderen. Besonders gut in Erinnerung sind mir auch die Menschen geblieben, die einfach ehrlich zu mir waren. Die Leute, die zugaben keine Worte für mich zu haben. Die Leute, die zugaben damit nicht klar zu kommen. Und die Leute, die zugaben, dass das Thema ihnen unangenehm sei. Mein Mann konnte die letzten zwei Tage auch nicht mehr mit rein zu meiner Mutter, unter Tränen gestand er mir damals, dass er diesen Anblick nicht mehr ertrage – und das war OK, denn er war dennoch für mich da. Manche kopierten mir auch Gedichte und poetische Texte, aber das gab mir einfach nichts. Und trotzdem weiß ich, dass das alles nur gut gemeint war und rechne das auch denjenigen hoch an. Da ich gar nicht religiös bin, haben mich Sprüche wie „sie ist jetzt an einem besseren Ort“, „jetzt ist sie bei Gott“, „wir sehen uns alle später wieder“ oder dass für sie gebetet wird, eher abgestoßen (bitte fühlt sich hier keiner angegriffen, ich schreibe alles aus meiner Perspektive und bin völlig tolerant gegenüber anderen Sichtweisen). Ich glaube selbst nicht an ein „Leben“ nach dem Tod. Jedenfalls nicht so ein Leben wie man es vor seinem Tod führt. Leider glaube ich auch nicht daran, dass wir uns alle am Ende wiedersehen, auch wenn es ein schöner Gedanke ist. In meiner Herzoperation habe ich selber eine Nahtoderfahrung gemacht und habe mir daraus meine ganz eigene Meinung gebildet.

Eine bittere Erkenntnis, die ich über die Erkrankung und den Tod meiner Mutter leider gewonnen habe, ist dass mein Familienbild, welches ich bis dato hatte völlig falsch und rosarot verfärbt war. Meine Familie ist hieran zerbrochen. Jetzt ist es an mir und meinem Mann unsere eigene Familie zu gründen und zu führen.

Liebe Grüße K.
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