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  #1  
Alt 24.01.2006, 21:19
Briele Briele ist offline
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Standard AW: Nicht nichts ohne dich, aber nicht dasselbe.......

Liebe Petra,

danke für Deine lieben Zeilen.

Meine lieben Nachbarinnen vermisse ich nach wie vor, aber es ist auch ein gutes Gefühl zu wissen, daß sie ein neues Heim gefunden haben, noch dazu mit Zugbrücke.

Liebe Petra, sag ihnen bitte, daß ich alles Gute wünsche und liebe Grüße sende.

Briele
  #2  
Alt 24.01.2006, 21:41
Alina Alina ist offline
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Standard AW: Nicht nichts ohne dich, aber nicht dasselbe.......

Liebe Petra,

habe mich auch sehr über deinen Eintrag gefreut, schön, dass du noch hier bist !

Mir geht es wie Briele, der Hühnerhaufen fehlt hier !
Sagst du ihnen bitte auch von mir schöne Grüße ?

Alles Liebe für dich und die anderen,
Alina
  #3  
Alt 27.01.2006, 11:30
Briele Briele ist offline
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Standard AW: Nicht nichts ohne dich, aber nicht dasselbe.......

Lieber Gärtner,

im thread „ich zünde eine Kerze an“ , habe ich Deinen Beitrag gelesen – zu Roberts 17. Geburtstag. Es erscheint mir unpassend meine Gedanken dort rein zu schreiben, daher mach ich es bei uns.

Lieber Gärtner, Du hast auch hier bedauert „nur der Fahrer“ gewesen zu sein. Darüber habe ich ein wenig meditiert.

Ich glaube es gibt eine Phase im Leben, in der sich jeder glücklich schätzen kann, der einen „Fahrer“ hat. Einen Menschen, von dem ich weiß, er wird da sein, mich verlässlich wohin bringen, mich verlässlich abholen und sonst lässt er mich mein Ding machen, mischt sich nicht zu viel ein und hält es aus, daß ich alles andere mit anderen Menschen mache.

Das Auto des Fahrers ist dann so etwas wie ein Hafen, steig ich ein, geh ich hinaus in „meine“ Welt, oder, komm ich heim. Der Fahrer wird manchmal gar nicht beachtet und doch weiß man was man an ihm hat.

Ein paar Jahre später, und Robert hätte in Deine Richtung hin wahrscheinlich gesagt/gedacht: oh Captain! My Captain – nun ruft er es Dir zu, mach einmal die Ohren auf, lieber Gärtner !

Habe ich einen „Fahrer“ gehabt? Eigentlich nicht.

Du hast recht – mit den Geburtstagen geht es immer weiter. Meine Oma wird nächste Woche 118 und so lange ich lebe hat sie immer weiter ihre Geburtstage.

Ich habe hier eine Geburtstagskerze für Robert brennen.
Briele
  #4  
Alt 28.01.2006, 10:50
gaertner gaertner ist offline
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Standard AW: Nicht nichts ohne dich, aber nicht dasselbe.......

Liebe Briele

wie immer bewundere ich Deine Fähigkeit, andere aufzumuntern und unter die arme zu greifen.
Du hast recht , ich habe mich zu diesem Zeitpunkt in meiner Rolle wohl gefühlt. Das es so nicht in Ordnung war , hab ich recht spät begriffen und es ist eben nicht mehr zu ändern. Ich habe teilweise sogar selber Mißmut und Unklarheiten provoziert bzw. nichts getan , um diese aus dem Weg zu räumen , weil ich dachte , dann hat Robert auch einen Kanal , wo er sich abreagieren kann, wo er vielleicht auch wütend ist und DARÜBER nachdenkt , und somit auch nicht über sich selbst und seine Krankheit grübelt.
Auf die Idee , das uns die Zeit mal fehlen wird , dies aus der welt zu schaffen , bin ich nie gekommen.


Montag werd ich mir eine Chaufeurmütze kaufen.

Liebe grüße in deine richtung

Gaertner
__________________
Jede Lebensphase hat ihren eigenen Wert

und ihr eigenes Glück.


daraus das Beste zu machen

ist der Schlüssel zur Zufriedenheit.
  #5  
Alt 16.04.2006, 15:44
Briele Briele ist offline
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Standard AW: Nicht nichts ohne dich, aber nicht dasselbe.......

16. April 2006


Lieber Papa,

heute ist Dein Todestag. Schon der vierte. Du bist oft in meinen Gedanken und häufig besuchst Du mich in meinen Träumen. Ob das bis an mein Ende so bleibt, ich Deinen und Mamas Todestag ganz bewusst erlebe, durchlebe?

Es geht mir gut, Papa. Ich hatte nach Deinem Tod nicht so lange, nie so schmerzhaft zu leiden wie bei Mamas Tod. Warum? Es ist nicht nur der eine Grund an den Du denkst und an den ich als erstes denke, die Art der Beziehung zwischen Mama und mir, nein, es sind mehrere Gründe. Ich hab viel gelernt in der Zeit nach Mamas Tod, ich konnte auf Erfahrungen zurückgreifen.

Auch hatte ich bei Dir das Gefühl nun schließt sich der Lebenskreis. Ein langes, gutes, selbstbestimmt gelebtes Leben geht zu Ende.

Aber vorher hatte ich viel Angst. Immer wieder Krankenhausaufenthalte, einige Stürze, einige Eingriffe und dann, zwei Monate vor Deinem Tod, da bist Du beinahe gestorben. Ein Herzinfarkt. Ich war gerade zu Dir gekommen. Es ging alles schnell, die Ärztin kam, gleich darauf die Rettung.

Es gab dann eine Situation, eine, wie oft in unserem Leben, in der ich Dein Verhalten einerseits unmöglich fand, andrerseits stolz auf Dich war.
Da lagst Du im Krankenzimmer, fertig, erschöpft, im Grunde genommen ziemlich angewiesen auf andere, denn seit vielen Jahren warst Du durch einen Schlaganfall teilweise behindert.
Eine Schwester beugt sich über Dich, spricht Dich sehr laut an, fragt wie es Dir geht und Du sagst, gleich besser, wenn sie aufhören so mit mir zu schreien, ich bin nur alt aber nicht taub. Sie fragt, was dürfen sie essen und Du sagst, alles, aber ich esse nur was mir schmeckt. Ich dachte oh, oh, oh und brachte am nächsten Tag eine Bonbonniere für das Schwesternzimmer. Aber da hattest Du schon alle für dich gewonnen.

Und dann kam es ganz schlimm. Du wurdest immer elender, wolltest sterben und nun passierte etwas Schreckliches: Du schicktest mich weg, sagtest, man schaut einem Menschen nicht beim Sterben zu, geh jetzt endlich. Ich war außer mir. Die Stationsschwester sagte, so etwas kommt vor, mein Kummer rührte sie an, sie weinte mit mir. Ich ging noch einmal zu Dir, Du hast die Augen aufgemacht und gesagt, jetzt bist du schon wieder da. Da hab ich mich verabschiedet und bin gegangen, aber in der Nähe geblieben.

Zum Erstaunen aller, auch Deinem eigenen, hast Du Dich nicht nur erholt, es ging Dir bald richtig gut. Du konntest wieder in Deine eigene Wohnung im Heim gehen.

Ach Papa, ich bin so froh, daß wir dann darüber sprachen. Wir konnten gut über Dein Sterben sprechen und Du wolltest mich nun dabei haben. Dabei hast Du mich so zweifelnd angesehen und ich wußte Deine Blicke zu deuten.

So zweifelnd hast Du mich auch manchmal angesehen, wenn ich zu Dir sagte, ich brauch Dich, wenn ich sagte, ein Mensch muß nicht immer etwas tun, es genügt oft, ist schön, wenn er einfach da ist, man bei ihm sein kann. Es hat Dich wohl mit Zufriedenheit erfüllt, vielleicht sogar mit Freude, aber ganz konntest Du es nie verstehen, weil Du nie so gedacht hast.

Dann fuhr ich weg, ließ Dich zurück, gut versorgt, und noch eine Umarmung, und noch ein Kuss und noch ein Blick wie Du da sitzt, eingehüllt in Zigarettenrauch.

Wie immer telefonierten wir zweimal täglich und dann warst Du plötzlich im Bett, warum, einfach müde, halt so. Nun auch Telefonate mit der Ärztin, der Schwester, meinem Bruder, meinen Freundinnen, die Dich besuchen, alle sagen, da ist nichts, ich soll mich nicht beunruhigen.

Das ging so ein paar Tage und ich sehe mich, wie ich hier an einem Sonntag in der Küche stehe, das Mittagessen koche. Plötzlich alles stehen lasse, zu Werner gehe und sage, bitte sag nichts, frag nichts, aber mach zwei Dinge für mich – geh bitte, und hol mir eine Bahnkarte für morgen und nimm mir dann ein Band auf mit Bruchs Violinkonzert Nr. 1.
Mein lieber Werner stand auf, sagte nichts, fragte nichts, machte alles und war dann, ist noch heute, froh darüber.

Ich rief Dich an und sagte, Papa, morgen komm ich und am nächsten Tag fuhr ich 1000km und dachte nur an Dich. An Dich und an mich, wie es so war mit uns. Nach mehr als 12 Stunden war ich bei Dir. Alle waren froh und erleichtert. Du strahltest mich an. Wirktest kräftig, etwas verwirrt. Eine Dame von der Hospizbewegung war bei Dir, wollte die Nacht über bleiben, ich könne ruhig heimfahren und schlafen.

Das tat ich. Rückblickend betrachtet erscheint es mir leichtsinnig. Am nächsten Morgen fuhr ich zu Dir. Hatte meine Sachen mit, einen Recorder, war eingerichtet länger mit Dir zu sein. Als ich Dich sah wußte ich, es geht zu Ende.

Du schliefst. Ich rollte den bequemen Stuhl vom Wohnzimmer zu Deinem Bett. Das ging gut, ich konnte meinen Kopf zu Deinem legen, ich hielt Deine Hand. Selten hast Du die Augen geöffnet und dann ging Dein Blick durch mich hindurch. Mehrere Male dachte ich nun setzt Dein Herz aus, aber verlässlich brachte Dein Herzschrittmacher den Takt.

Die Schwestern, Dein Lieblingspfleger, sogar die Mädchen von der Küche und der Wäscherei kamen um sich von Dir zu verabschieden. Alle hatten Tränen in den Augen, manche weinten. Es hätte dir gefallen.

Das war der einzige Tag in unserem Leben, Papa, an dem wir 10 Stunden ununterbrochen beisammen waren. Nicht nur beisammen. Es waren 10 Stunden, an denen es nichts anderes gab, keine Ablenkung, keine anderen Gedanken, es ging um das bloße SEIN, und wir hatten ständig körperlichen Kontakt. Einmal musste ich auf die Toilette und hatte Angst wegzugehen.

Am Abend bist Du aufgewacht. Du warst vollkommen klar da. Ich stand über Dich gebeugt, hatte Deine Hand in der meinen, plötzlich hast Du sie unglaublich kräftig gedrückt, geschüttelt, sahst mich an, hast Deinen Mund zu einem Kuß geformt, ich hab meine andere Hand unter Deinen Kopf gelegt, Dich geküsst und Du bist gestorben.

Du warst tot. Du warst sofort und auf der Stelle weg. So hab ich es empfunden.

Ich hab Dir zweimal das Violinkonzert vorgespielt, Dir noch einmal alles gesagt und war froh daß es nur eine Wiederholung ist, Du meine Sätze bereits gehört hast als Du noch darauf erwidern konntest.

Mein Bruder, Dein Sohn kam. Er weinte und sagte zu mir, ich bin so schrecklich froh, daß du da warst, du immer da bist. Das rechne ich ihm an, das vergesse ich nicht, das tat mir gut.

Ich ließ Dich mit ihm allein. Ging auf den Friedhof, wo Mama nicht ist, aber ihre Asche und ein Stein mit ihrem Namen. Es begann zu regnen. Als ich dort war legte ich meine Hand auf den Marmorstein und sagte, Mama, Papa ist tot. Dann begann ich zu weinen.

Als ich zurückkam lagst Du angezogen auf dem Bett. Du sahst beeindruckend aus. Das Wort „Patriarch“ kam mir in den Sinn. Du wärst zufrieden gewesen. Wir blieben noch ein paar Stunden bei Deinem Körper.

Lieber Papa, es stimmt, ich habe nach Deinem Tod nicht so schmerzhaft lange getrauert, ich hab mir leichter getan. Aber mit Deinem Tod kamen andere, neue schmerzhafte Erfahrungen: Nun war meine lange Kindheit endgültig an ihr Ende gekommen, ich habe mich immer behütet gefühlt. Nie mehr sagt jemand „meine Tochter“ und meint dabei mich.

Bereits ein paar Tage nach Deinem Tod durchfuhr mich ein anderer Gedanke siedend heiß: ich kann keinen Menschen mehr fragen. Ich habe hundert wichtige und weniger wichtige Fragen, wöchentlich kommt eine neue dazu.

Dabei haben wir die Zeit nach Mamas Tod wirklich genutzt, es war uns beiden klar nun dürfen wir nicht so weitermachen als wäre die Zeit unendlich. Wir haben viel geredet, Bänder besprochen, ich war der Meinung an alles gedacht zu haben, aber nein, es fehlt viel.

Und doch bin ich zufrieden, was heißt zufrieden, ich könnte vor Dankbarkeit in die Knie gehen, für die zärtliche, aufmerksame, liebevolle Nähe die wir hatten. Und daß wir immer gut gemeinsam lachen konnten.

In meinen Träumen seid Ihr meistens beide, Du und Mama, auch wenn einmal Du, einmal sie die Hauptrolle spielt. Sehr oft sehe ich Euch als junges Paar. Im wachen Zustand habe ich dieses Bild nie.

Es geht mir gut. Ich habe Euch gut in mir. Ich bin ein altes Kind, trotzdem finde ich es manchmal schwer mein Leben nun ohne Euch zu Ende zu leben. „Es ist nicht nichts ohne Euch, es ist aber alles weniger“.

Dieses Mal fällt Dein Todestag auf den Ostersonntag. Ich hoffe wir treffen wieder aufeinander. Bis dahin fühle ich mich behütet. Von Dir. Von Mama. Und bin und bleibe Eure Tochter.
  #6  
Alt 16.04.2006, 22:42
Alina Alina ist offline
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Standard AW: Nicht nichts ohne dich, aber nicht dasselbe.......

Liebe Briele !

Mein erster Gedanke nach dem Lesen deiner Zeilen war:wie schön, dass der Sterbetag deines Papas heuer auf den Ostersonntag fällt. Der Karfreitag mit seinem Blut und Schrecken ist schon vorüber, nun ist der Tag, der an ein Weiterleben nach dem Tod, an eine Erlösung hoffen lässt.

Briele, ein kleines bisschen konte ich deinen Papa schon durch deine Erzählungen kennen lernen, sodass ich bei vielen Situationen, die du heute beschrieben hast, nicken und mitlächeln konnte. Ja, so stelle ich mir deinen Papa vor: wie er die schreiende Schwester mit trockenem Humor "zurecht gewiesen hat", wie er die Schwestern und Pfleger für sich gewinnen konnte, wie er sich auch über deren aufrichtige Trauer um ihn gefreut hätte ( oder gefreut hat, wer weiß schon, was ein Sterbender noch alles wahrnehmen kann ?).

Ich bin so froh, dass sich alles so gut ausgegangen ist. Dass du deiner inneren Stimme vertraut hast und einfach losgefahren bist, dass Werner dich nicht entmutigt, sondern einfach akzeptiert hat: Briele muss nun zu ihrem Papa gehen, sofort und ohne Aufschub.
Öfters haben wir schon darüber gesprochen, dass wir es als Gnade empfunden haben, dass wir beim Sterben unserer Eltern dabei sein konnten. Trotzdem glaube ich, dass es nicht nur Schicksal, Bestimmung war, sondern auch du selber, Briele, weil du an deinem Gefühl, deiner Vorahnung nicht gezweifelt hast, nichts aufgeschoben hast.

Ach, dein stolzer Papa, der dich vorerst nicht beim Sterben dabei haben wollte ! Er durfte dann doch noch lernen und erleben, dass es gut ist, die Tochter bei sich zu haben, sich von ihr geliebt zu fühlen und begleitet zu werden auf dem unabwendbaren Weg, obwohl sie nichts an seiner Krankheit, an seinem Sterben ändern kann.

Briele, ich hab´s schon öfters gesagt,aber auch heute finde ich keine Worte, die besser passen könnten: Das habt ihr gut gemacht, dein Papa und du ! Und noch jemand hat sich sicherlich sehr gefreut über euch beide, deine Mama,die ja nicht auf dem Friedhof war, sondern besonders in diesen Tagen ganz nah bei euch.

Ich umarme dich, wie immer,
Alina
  #7  
Alt 03.10.2009, 23:09
Briele Briele ist offline
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Standard AW: Nicht nichts ohne dich, aber nicht dasselbe.......

Liebe Mama,

zehn Jahre her ist es in wenigen Stunden, daß Du tot bist, mein Herz klopft schneller während ich das schreibe, warum eigentlich? Dreitausendsechshundertfünfzig mal aufgewacht, schlafen gegangen mit dem Wissen Dich nicht hören, sehen, spüren, sprechen zu können und immer die Sehnsucht danach zu haben.

Es geht mir ganz gut, Mama, ich hab mich arrangiert in dem Leben ohne Dich. Es wurde langsam leichter, so Schritt für Schritt, oft drei vor und zwei zurück. Und irgendwann habe ich dann kapiert, daß meine Sehnsucht für immer bleiben wird, nach Dir und Papa, dem früheren Leben mit Euch, und daß das gut so ist weil es wie ein Bindemittel wirkt, auf diese Art alles in Schwingung bleibt, die Verbindung nicht eintrocknet. ….. nicht nichts ohne Dich ….. aber…..

Nun sind fast alle Verwandten und Menschen aus Deiner Generation tot und die noch leben, denen wünscht man fast, daß sie bald sterben können.

Etliche Jahre habe ich neidisch und eifersüchtig nachgerechnet wieviele Jahre andere länger leben durften als Du und jetzt fühle ich oft so etwas wie Dankbarkeit, daß alles so war wie es war. Eine Zeitlang war ich hinter älteren Damen her, wollte mütterliche Zuneigung, wollte töchterlich sein, aber das habe ich aufgegeben. Das geht nicht, ist nicht ersetzbar, wiederholbar. Ich bin für immer Deine Tochter und Du meine Mama.

Nach wie vor träume ich viel von Dir, das macht mich glücklich. Ich sollte die Träume immer aufschreiben, unlängst habe ich in dem Heft nachgelesen und bemerkt, daß ich einige schon vergessen hatte. Aber ein paar sind immer präsent, vielleicht weil ich sie anderen erzählt habe.

Vor ein paar Tagen träumte mir, daß ich in einem großen Raum war mit mir bekannten, aber auch unbekannten Menschen. In der Mitte des Raumes war ein Stützpfeiler und an den gelehnt standest plötzlich Du. Ich war etwas entfernt, wir sahen einander lächelnd an, ich wußte Du bist tot, nur für mich sichtbar und daß Du das auch weißt.
Dann dachte ich mir, ich muß Dir jetzt aber unbedingt zeigen, daß ich Dich wahrnehme, es egal ist, was die anderen denken und ich bin hin und habe den Stützpfeiler umarmt.

Manchmal meine ich Dich neben mir zu spüren, fühle mich von Dir umfangen, es sind oft nur Sekunden, es kann in einem Bus sein, beim Kochen. Dann halte ich inne und wende mich Dir ganz zu.

Aber Mama, es bekümmert mich, daß ich nun, je mehr Zeit vergeht, wieder weniger daran glauben kann, daß es vielleicht etwas nach dem Tod gibt. Ich wünsche es mir, ich wünsche es mir sehr und ich will so leben und mich verhalten als sei es der Fall. Aber ich halte es für unwahrscheinlich.

Es hat sich einiges geändert, nicht mit einem Schlag, ich kann es an keinem Geschehen festmachen. Ich hatte z.B. ein „Trauerbüchlein“ angelegt, Sprüche, Gedanken, Texte, Geschichten hineingeschrieben die mich ansprachen, mir gefielen. Wenn ich jetzt darin lese finde ich höchstens noch ein Drittel gut, den Rest abgedroschen, verkitscht, nicht anrührend sondern rührselig.

Nicht mit Dir meine Trauer, meinen Verlust, meine Sehnsucht besprechen zu können, die ganzen Gedanken dazu, das kann ich nach wie vor kaum fassen.

Ich hab noch immer schrecklich viele Sachen von Dir, ich behalte sie weiter, aber es ist nicht mehr so, daß ich mein Andenken an Dich an Dingen festmachen muß, ich brauche diese Krücke eigentlich nicht mehr. Wichtig sind mir Deine Briefe in denen ich immer wieder ein bißchen lese und es ist schön den Rolladen des Schreibtisches hochzuziehen und in einem Fach Deine harmonisch runde Füllfederschrift zu sehen.

Würde mein Haus brennen, ich würde als erstes den Karton mit den Fotos retten, an denen hänge ich.

Auch nach zehn Jahren zünde ich an jedem Tag eine Kerze für Dich und Papa an, und – jetzt würden wir alle ein bißchen lachen – ja, manchmal bin ich selbst ein wenig gerührt über meine töchterliche Treue!

Ich bin froh daß ich Menschen habe mit denen ich noch immer über Dich sprechen kann, die mir nicht mit Ungeduld und Verständnislosigkeit kommen. Das ist nicht selbstverständlich und oft wartet man in der falschen Ecke auf Zuwendung. Ich nehme sie wo ich sie bekomme.

Wahrscheinlich sollte ich hier besser schweigen. Ich weiß ja, die meisten Mütter die im Forum von ihren Töchtern beweint werden sind in meinem Alter. Es ist auch nicht gerade tröstlich für andere zu lesen, daß es einem zehn Jahre später noch immer herum treibt.

Ich schreibe hier weil ich möchte, daß vielleicht ein paar Leute heute über Dich lesen, wissen, daß es Dich gegeben hat. Es ist mein uralter thread, ich mußte lange suchen und habe dann darin gelesen. Es hat mir damals unwahrscheinlich geholfen zu schreiben, mich auszutauschen. Für eine gewisse Zeit waren hier Menschen ganz intensiv in meinem Leben. Es war wohl hier die Geburtsstätte des Trauertiers, das seither unendlich viele Kinder bekommen hat. Ich hätte es damals vielleicht abmurksen sollen.

Du hast Dich immer für die Menschen in meinem Leben interessiert, Dich mit mir gefreut und Du warst mit mir traurig wenn etwas in Brüche ging. Bis jetzt habe ich keinen Menschen aus dem Forum persönlich kennen gelernt, aber es gibt nun schon im sechsten Jahr intensiven Austausch, ist das nicht schön? Es hat auch Enttäuschungen gegeben, aber so ist das halt im Leben, das gehört dazu. Und vielleicht war ich für andere auch eine Enttäuschung.

Den heutigen Tag wollte ich ganz anders verbringen als er nun war, aber ich hatte keine Wahl. Ich wollte mich nur mit Dir beschäftigen, mit meinen Erinnerungen. Photos ansehen, Deine Musik hören, auf der Couch liegen und in meinem Kopf jede Einzelheit Deiner äußeren Erscheinung abrufen, am Abend meine Freundinnen zu einem Mama-Gedenkessen einladen, sie sprechen noch immer oft von Dir. Vor allem wollte ich versuchen Dir hier in aller Ruhe einen wirklich schönen Brief schreiben. Nun ist er wie er ist. Aber vielleicht ist es auch gut und richtig, daß mich gerade heute das Leben so richtig im Griff hatte, ich mehr beschäftigt mit Arbeit war also sonst. Ich war nicht abgelenkt, ich habe trotzdem immer an Dich gedacht, auf die Uhr gesehen, mich erinnert was an diesem Tag, um diese Zeit vor 10 Jahren war und mir zwischendurch gesagt, weder Du noch ich müssen das noch einmal durchleben. Irgendwie war dieser Tag exemplarisch für die Realität: ich lebe, das Leben hat mich, meine Liebe, Gefühle, meine Gedanken sind bei Dir, liebste Mama, was immer auch ist.

Manchmal denke ich wie es wäre, kämst Du bei der Tür herein. Das denke ich jetzt immerhin seit 10 Jahren und die Vorstellung meiner Reaktion ist immer dieselbe: ich würde vor Glück und Erleichterung sterben. Gerne.

Deine Tochter

Geändert von Briele (03.10.2009 um 23:33 Uhr)
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