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Alt 22.12.2006, 00:27
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struwwelpeter struwwelpeter ist offline
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Der Weihnachtsstern

"Ottar ist so dumm", sagten die andern Schulkinder. In jeder Schule muss es natürlich einen Dümmsten geben - hier war es Ottar. Er war ziemlich neu, ein kleiner Kerl aus der Stadt, den die Mutter in dieser vortrefflichen Gegend bei ebenso vortrefflichen Leuten untergebracht hatte, als sie krank wurde. Sie musste in ein Krankenhaus und konnte sich deshalb nicht um ihn kümmern. Er hatte keinen Vater - das war durchgesickert.
Die Lehrerin hörte eines Tages in der Schule die Äußerung, dass Ottar so dumm sei.
Einige Schüler der dritten Klasse standen in der Pause beisammen und waren viel, viel klüger; fanden sie wenigstens.
Da bekam die Lehrerin plötzlich die tiefe Furche zwischen den Augenbrauen, und hinter dem Kneifer blitzte es scharf. "Still, Kinder!" sagte sie. "Ich bin nicht sicher, ob nicht Ottar einer der Klügsten von euch allen ist. Er ist nur anders. Marsch, weiter! Nicht herumstehen und den neuen Kameraden verleumden!"

Es war kurz vor dem Fest. Überall in den Häusern begann es nach Weihnachten zu riechen und zu schmecken, in allen Ecken wurde geflüstert, Koffer und Schränke wurden abgeschlossen. Und alle Kinder waren ganz, ganz brav. Der Weihnachtsbaum war aus dem Wald geholt worden und stand duftend da, bis er zum strahlenden Mittelpunkt geschmückt werden sollte.

In der Schule erzählte die Lehrerin am letzten Tag vor den Weihnachtsferien von dem Kindlein, das in einem Stall geboren und in eine Krippe gelegt wurde, von den Hirten, die ihre Schafe hüteten und sahen, wie sich der sternübersäte Himmel öffnete. Engel erschienen und sangen. Sie erzählte auch von den drei weisen Männern aus dem Osten, die einen großen, glänzenden Stern erblickt hatten und ihm auf seiner Wanderung gefolgt waren, bis er über dem niedrigen kleinen Stall in einem fremden Land stehen geblieben.
Ottar vergaß ganz und gar, wo er war, denn als die Lehrerin die Erzählung beendet hatte, stand er auf und ging zu ihr hin, obwohl es mitten in der Unterrichtsstunde war. Sie trug an einer goldenen Kette um den Hals ein kleines Goldkreuz, an dem er zu fingern begann und fragte: "Bist du sicher, dass das alles wahr ist?" - "Ja, natürlich."
"Das mit dem Stern auch? Da haben sie wohl in der Nacht wandern und am Tage schlafen müssen?"
"Ja, wahrscheinlich."
Die andern fingen zu kichern an, denn es war nicht gebräuchlich, sich in dieser Gegend so zu benehmen. Sie pflegten in der Schule stillzusitzen und keine unnötigen Fragen zu stellen oder gar am Goldkreuz der Lehrerin zu fingern. Sie fand aber, dass er es tun konnte, denn sie untersagte das Kichern, während Ottar auf seinen Platz zurückging - verlegen und errötend.

In Langset schmückte der Vater selbst den Christbaum, er war schon eine endlose Zeit allein im Zimmer drinnen, während die Mutter sich mit dem Weihnachtsmahl beschäftigte und alle Kinder die Ohren spitzten und warteten.
"Du kriegst auch etwas", sagten sie zu Ottar. "Hab nur keine Angst." Ottar lächelte; sie waren heute so lieb - er aber wartete auf etwas ganz Bestimmtes. Er wartete auf einen Brief von seiner Mutter, denn seit dem letzten war es schon lange her. Und in dem Brief würde sicher stehen, dass sie viel wohler war und bald nach Hause kommen durfte. Sie musste ihm doch zu Weihnachten schreiben, dessen war er ganz sicher. Der Brief würde bald kommen. Er hatte gar nichts dagegen, nach einem oder ein paar Armvoll Holz hinausgeschickt zu werden, denn dabei konnte er nach dem Postboten Ausschau halten.

Der Brief war aber schon gestern gekommen; Ottar wusste es nur nicht. Er kam nicht von der Mutter selbst, nein. Und nun hatten sich Leute in Langset dahin geeinigt, dass es Zeit genug sei, wenn der Junge nach dem Fest von dem Brief erführe. Dann allerdings müsste es anders werden, denn Ottars Mutter hatte für den Jungen nur bis Weihnachten bezahlt. Und es war wohl kaum anzunehmen, dass sie etwas hinterließ, womit die weitere Bezahlung erfolgen konnte. Jetzt sollte er aber die Weihnachtstage bei ihnen feiern - sie waren ja keine Unmenschen.

So allein er auch da draußen mit seinem Holz in der Dämmerung über den Hof ging - in Wirklichkeit war er noch viel einsamer, als er wusste. Denn im Krankenhaus war seine Mutter kurz vor Weihnachten gestorben.

Viel Holz trug er nicht auf einmal herein, aber die Arme waren vollbeladen, und der Schnee biss in die blaugefrorenen Finger, die das Holz umklammerten. Er musste bestimmt die Handschuhe anziehen. Als er am Fenster vorbeiging, sah er den Weihnachtsbaum, um den der Vater beschäftigt war; er hielt feine Glaskugeln und gute Kuchenmänner in den Händen - es war bestimmt unerlaubt, ihm zuzusehen, weshalb Ottar gewissenhaft den Blick abwandte.

Da - plötzlich sah er den Stern. Droben zwischen den Wolken kam ein großer goldener Stern am blassblauen Himmel dahergesegelt. Ottar ging es wie ein Stoß durch den ganzen Körper. Er blieb still stehen und umklammerte die Holzscheite; das Herz klopfte, dass es ihm beinahe die Kehle zuschnürte. Konnte es wirklich wahr sein, konnte das...? Jetzt war er hinter den Wolken verschwunden, aber im nächsten Augenblick war er wie durch einen Schleier wieder sichtbar; langsam glitt er dort oben seine Bahn entlang. Das konnte nichts anderes sein als der Weihnachtsstern! Der Stern der Weisen, der damals im Osten entzündet worden war und über das Himmelszelt wanderte. Da war er wieder" Denn die gewöhnlichen Sterne standen doch still. Außer wenn manchmal einer als Sternschnuppe herunterfiel.

Als Ottar sich darüber klar war, dass es der Stern der Weisen sein musste, den er sah, wurde er so aufgeregt, dass er das Holz einfach fallen ließ, durch die Hoftür hinauslief und die Richtung einschlug, die der Stern wies.
Er versuchte, den Kopf so weit wie möglich in den Nacken zu legen und den Stern nicht aus den Augen zu lassen, während er lief. Er stolperte aber über die hohe Schneekante des Weges, fiel hin und stand wieder auf. Er musste sich damit begnügen, nur dann und wann hinaufzuschauen. Zwischen den Höfen lagen große Abstände, und der Weg lag wie ausgestorben da. Auf jedem Hof war es still, denn hinter den Fensterscheiben hatte man die Lichter der Weihnacht bereits angezündet. Drinnen waren alle zum Fest versammelt, alle, die zusammengehörten, Vater, Mutter und die Kinder. Sie hielten einander an den Händen und sangen und taten alles, um an diesem Abend recht lieb zueinander zu sein. Nur Ottar stapfte in der Dämmerung auf dem Weg dahin. Er dachte aber gar nicht daran, dass er zu bedauern war, auch daran nicht, dass man ihn in
Langset vielleicht suchte, dass es immer dunkler wurde und dass er für einen weiten Marsch nicht angezogen war. Sogar der Brief, auf den er gewartet hatte, war jetzt aus seinen Gedanken verschwunden. Ihn erfüllte bis aufs äußerste ein großes, unbekanntes Glücksgefühl: Der Stern der Weisen war noch einmal entzündet worden - für ihn! Wo wollte er mit ihm hin? Führte er ihn zur Mutter oder vielleicht wieder zu einem Stall mit einem Kind in der Krippe - was wusste er? Klopfenden Herzens eilte er dem Wunder entgegen.

Ottar war ziemlich weit gelaufen, als er warm und atemlos wurde und immer langsamer vorankam. Er war in eine unbekannte Gegend gekommen, ja in ein anderes Land. Es wurde jetzt kalt, merkte er, denn er begann zu frieren, und seine Zähne klapperten; hungrig war er auch, fühlte er plötzlich. Der Stern aber wanderte dort oben ruhig von Süden nach Norden, er sah ihn manchmal.
Aber nie wollte er sich senken oder über einem Haus oder einer Hütte am Weg stehen bleiben. Ottar steckte die Hände in die Taschen und ging weiter. Der Wind trieb ihm den Schnee ins Gesicht, so dass er den Kopf senken musste. Er hob den Blick nicht mehr so oft zum Stern empor, aber er wusste, dass er dort oben war.

Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Die Tannen längs des Weges waren gleichsam in dichteren Reihen aufmarschiert. Er merkte jetzt, dass er tiefen Wald zu beiden Seiten haben musste. Wäre der Stern nicht gewesen, würde er sicher Angst bekommen haben. Er hob den Kopf, um sich seines Begleiters zu vergewissern - da blieb er wie gebannt stehen. Da war nicht nur ein Stern, sondern ein ganzer Haufen! Droben zwischen den Wolken zog jetzt eine ganze Schar desselben Weges.

Mit einem Male gingen ihm die Augen auf, und er erkannte den unbarmherzigen Zusammenhang: Die Wolken waren gewandert - die Sterne aber standen still. Auch der Weihnachtsstern stand still, er war nur klarer und größer als die anderen und zitterte ein wenig, als ob er fröre. Dass er sich so täuschen konnte! Es war ja jetzt ganz deutlich!

Etwas in ihm zerbrach, die Spannung ließ nach, das Wunder war nur ein Trug. Brennend heiß um die Ohren, obwohl es ihn gleichzeitig vor Kälte schüttelte, stand er allein in dem schwarzen Wald. Ottar ist dumm, Ottar ist dumm! Er ging im Takt mit diesen Worten, während er den Weg fortsetzte. Umkehren und heimgehen konnte er nicht, denn dann hätte er erklären müssen, und das konnte er nicht. Und doch lag Ottar eine halbe Stunde später in einem warmen Bett und erzählte einem Mann und einer Frau, die bei ihm saßen, wie alles gekommen war.

Das war so zugegangen: Nils und Oline hatten sich eben an den Weihnachtstisch gesetzt, als es leise und vorsichtig an der Tür pochte. Es hätte ein Vogel sein können, der mit seinem Schnabel pickte. Ihr kleiner Hof lag wohl am Weg - aber wer konnte am Heiligen Abend so spät noch unterwegs sein? Sie erschraken nicht wenig, als der Kleine hereinkam, ein erschöpftes Wesen aus der Dunkelheit und Kälte da draußen.

"Verzeiht - ich bin wohl fehlgegangen", stammelte er verwirrt. Hier war es so schön warm und behaglich, es roch so gut nach Braten, die zwei am Tisch sahen so gutmütig aus, und in einer Ecke des Zimmers stand ein kleiner Weihnachtsbaum mit Lichtern. Das konnte wohl nicht stimmen. Dann zeigte es sich, dass es doch stimmte. Die zwei alten Leute hatten alles, was zum Weihnachtsfest gehörte, außer einem kleinen Ottar. Und da stand er nun bei ihnen im Zimmer, hungrig wie ein Wolf, um mit dem guten Weihnachtsessen bei ihnen gesättigt zu werden, durchgefroren, um durch die Wärme bei ihnen aufgetaut zu werden, und gerade so todmüde, dass er gleich zu Bett gebracht werden musste. Sie fragten ihn vorsichtig aus, während sie sich um ihn bemühten und ihn allmählich warm bekamen.

Was er ihnen erzählte, berührte ihre Herzen ganz wunderlich. Was er nicht erzählte, errieten sie. Ein Kind, das in der Welt so einsam war, dass es am Weihnachtsabend allein in den Wald ging, war zu ihnen gekommen.

Am Tag darauf kam ein Bote aus Langset. Der Vater war es selbst. Es war ein großer Aufstand gewesen, als Ottar verschwunden war und sie nur die Holzscheite auf dem Hof fanden. Der Weihnachtsabend war auf dem Hof ganz ins Wasser gefallen, nur des fremden Jungen wegen. Die ganze Umgebung war aufgeschreckt worden, aber erst heute war man so weit nach Norden gekommen, bis zu Nils und Oline. Und jetzt sollte der Ausreißer wieder mit nach Langset - bis auf weiteres wenigstens.

"Nein", sagte Ottar bestimmt. Es entfuhr ihm - bang sah er von einem zum anderen. Dann verkroch er sich wie eine erschreckte Katze unter dem Bett. Es gab keine Schläge. Der Vater ging allein nach Hause.
Nils begleitete ihn in den Gang hinaus, und man hörte, dass sie miteinander etwas besprachen. Es ist schwer zu sagen, wer zufriedener war, der, der ging, oder die, die zurück blieben.

"Hierauf müssen wir uns einen Herzensstärker zu Gemüte führen"; meine Mutter Oline und holte die Kaffeekanne und einen großen Teller mit Weihnachtskuchen. Dann setzte sie sich freundlich und behäbig an den Tisch und goss ein. Vater Nils, lang und knochig, kam herbei und ließ sich auf der Bank nieder; man merkte, dass er ein wahrer Freund von Kaffee und Weihnachtskuchen war.
Ottar hatte bereit seinen festen Platz neben ihm. Er hielt ein tüchtiges Stück Kuchen in der Hand, vergaß aber hineinzubeißen - sein Blick wurde immer ferner.
"Du musst essen, mein Junge, damit du groß wirst und deine Beine bis auf den Boden reichen wie die meinen", sagte Nils.
Da schaute Ottar ihn an, als wäre er plötzlich aus dem Schlummer geweckt worden. "Ich möchte nur eins wissen."
"Na, was denn?"
"Ob es nicht doch der Weihnachtsstern war!"



Marie Hamsun (1881 -1969)


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Alt 22.12.2006, 00:33
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Der Engel der nicht singen wollte

Als die Menge der himmlischen Heerscharen über den Feldern von Bethlehem jubelte: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden", hörte ein kleiner Engel plötzlich zu singen auf. Obwohl er im unendlichen Chor nur eine kleine Stimme war, machte sich sein Schweigen doch bemerkbar. Engel singen in geschlossenen Reihen, da fällt jede Lücke sogleich auf. Die Sänger neben ihm stutzten und setzten ebenfalls aus. Das Schweigen pflanzte sich rasch fort und hätte beinahe den ganzen Chor ins Wanken gebracht, wenn nicht einige unbeirrbare Großengel mit kräftigem Anschwellen der Stimmen den Zusammenbruch des Gesanges verhindert hätten. Einer von ihnen ging dem gefährlichen Schweigen nach. Mit bewährtem Kopfnicken ordnete er das weitere Singen in der Umgebung und wandte sich dem kleinen Engel zu.

Warum willst du nicht singen?" fragte er ihn streng. Er antwortete: "Ich wollte ja singen. Ich habe meinen Part gesungen bis zum "Ehre sei Gott in der Höhe". Aber als dann das mit dem "Frieden auf Erden unter den Menschen" kam, konnte ich nicht mehr weiter mitsingen. Auf einmal sah ich die vielen Soldaten in diesem Land und in allen Ländern. Immer und überall verbreiten sie Krieg und Schrecken, bringen Junge und Alte um und nennen das Frieden. Und auch wo nicht Soldaten sind, herrschen Streit und Gewalt, fliegen Fäuste und böse Worte zwischen den Menschen und regiert die Bitterkeit gegen Andersdenkende. Es ist nicht wahr, dass auf Erden Friede unter den Menschen ist, und ich singe nicht gegen meine Überzeugung! Ich merke doch den Unterschied zwischen dem, was wir singen, und dem, was auf Erden ist. Er ist für mein Empfinden zu groß, und ich halte diese Spannung nicht länger aus."

Der große Engel schaute ihn lange schweigend an. Er sah wie abwesend aus. Es war, als ob er auf eine höhere Weisung lauschen würde. Dann nickte er und begann zu reden: "Gut. Du leidest am Zwiespalt zwischen Himmel und Erde, zwischen der Höhe und der Tiefe. So wisse denn, dass in dieser Nacht eben dieser Zwiespalt überbrückt wurde. Dieses Kind, das geboren wurde und um dessen Zukunft du dir Sorgen machst, soll unseren Frieden in die Welt bringen. Gott gibt in dieser Nacht seinen Frieden allen und will auch den Streit der Menschen gegen ihn beenden. Deshalb singen wir, auch wenn die Menschen dieses Geheimnis mit all seinen Auswirkungen noch nicht hören und verstehen. Wir übertönen mit unserem Gesang nicht den Zwiespalt, wie du meinst. Wir singen das neue Lied." Der kleine Engel rief: "Wenn es so ist, singe ich gerne weiter."

Der Große schüttelte den Kopf und sprach: "Du wirst nicht mitsingen. Du wirst einen anderen Dienst übernehmen. Du wirst nicht mit uns in die Höhe zurückkehren. Du wirst von heute an den Frieden Gottes und dieses Kindes zu den Menschen tragen. Tag und Nacht wirst du unterwegs sein. Du sollst an ihre Häuser pochen und ihnen die Sehnsucht nach ihm in die Herzen legen. Du musst bei ihren trotzigen und langwierigen Verhandlungen dabei sein und mitten ins Gewirr der Meinungen und Drohungen deinen Gedanken fallen lassen. Du musst ihre heuchlerischen Worte aufdecken und die anderen gegen die falschen Töne misstrauisch machen. Sie werden dir die Türe weisen, aber du wirst auf den Schwellen sitzen bleiben und hartnäckig warten. Du musst die Unschuldigen unter deine Flügel nehmen und ihr Geschrei an uns weiterleiten. Du wirst nichts zu singen haben, du wirst viel zu weinen und zu klagen haben. Du hast es so gewollt. Du liebst die Wahrheit mehr als das Gotteslob. Dieses Merkmal deines Wesens wird nun zu deinem Auftrag. Und nun geh. Unser Gesang wird dich begleiten, damit du nie vergisst, dass der Friede in dieser Nacht zur Welt gekommen ist."

Der kleine Engel war unter diesen Worten zuerst noch kleiner, dann aber größer und größer geworden, ohne dass er es selber merkte. Er setzte seinen Fuß auf die Felder von Bethlehem. Er wanderte mit den Hirten zu dem Kind in der Krippe und öffnete ihnen die Herzen, dass sie verstanden, was sie sahen. Dann ging er in die weite Welt und begann zu wirken. Angefochten und immer neu verwundet, tut er seither seinen Dienst und sorgt dafür, dass die Sehnsucht nach dem Frieden nie mehr verschwindet, sondern wächst, Menschen beunruhigt und dazu antreibt, Frieden zu suchen und zu schaffen. Wer sich ihm öffnet und ihm hilft, hört plötzlich wie von ferne einen Gesang, der ihn ermutigt, das Werk des Friedens unter den Menschen weiterzuführen.

Werner Reiser


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  #3  
Alt 22.12.2006, 21:16
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Das Paket des lieben Gottes
von Bertolt Brecht




Nehmt eure Stühle und eure Teegläser mit hier hinter an den Ofen und vergeßt den Rum nicht. Es ist gut, es warm zu haben, wen man von der Kälte erzählt.

manche Leute, vor allem eine gewisse Sorte Männer, die etwas gegen Sentimentalität hat, haben eine starke Aversion gegen Weihnachten. Aber zumindest ein Weihnachten in meinem leben ist bei mir wirklich in bester Erinnerung. Das war der Weihnachtsabend 1908 in Chicago.

Ich war anfangs November nach Chicago gekommen, und man sagte mir sofort, als ich mich nach der allgemeinen Lage erkundigte, es würde der härteste Winter werden, den diese ohnehin genügend unangenehme Stadt zustande bringen könnte. Als ich fragte, wie es mit den Chancen für einen Kesselschmied stünde, sagte man mir, Kesselschmiede hätten keine Chance, und als ich eine halbwegs mögliche Schlafstelle suchte, war alles zu teuer für mich. Und das erfuhren in diesem Winter 1908 viele in Chicago, aus allen Berufen.

Und der Wind wehte scheußlich vom Michigan-See herüber durch den ganzen Dezember, und gegen Ende des Monats schlossen auch noch eine Reihe großer Fleischpackereien ihren Betrieb und waren eine ganze Flut von Arbeitslosen auf die kalten Straßen.

Wir trabten die ganzen Tage durch sämtliche Stadtviertel und suchten verzweifelt nach etwas Arbeit und waren froh, wenn wir am Abend in einem winzigen, mit erschöpften Leuten angefüllten Lokale im Schlachthofviertel unterkommen konnten. Dort hatten wir es wenigstens warm und konnten ruhig sitzen. Und wir saßen, so lange es irgend ging, mit einem Glas Whisky, und wir sparten alles den Tag über auf dieses eine Glas Whisky, in das noch Wärme, Lärm und Kameraden mit einbegriffen waren, all das, was es an Hoffnung für uns noch gab.

Dort saßen wir auch am Weihnachtsabend dieses Jahres, und das Lokal war noch überfüllter als gewöhnlich und der Whisky noch wässeriger und das Publikum noch verzweifelter. Es ist einleuchtend, daß weder das Publikum noch der Wirt in Feststimmung geraten, wenn das ganze Problem der Gäste darin besteht, mit einem Glas eine ganze Nacht auszureichen, und das ganze Problem des Wirtes, diejenigen hinauszubringen, die leere Gläser vor sich stehen hatten.

Aber gegen zehn Uhr kamen zwei, drei Burschen herein, die, der Teufel mochte wissen woher, ein paar Dollars in der Tasche hatten, und die luden, weil es doch eben Weihnachten war und Sentimentalität in der Luft lag, das ganze Publikum ein, ein paar Extragläser zu leeren. fünf Minuten darauf war das ganze Lokal nicht wiederzuerkennen.

Alle holten sich frischen Whisky (und paßten nun ungeheuer genau darauf auf, daß ganz korrekt eingeschenkt wurde), die Tische wurden zusammengerückt, und ein verfroren aussehendes Mädchen wurde gebeten, einen Cakewalk zu tanzen, wobei sämtliche Festteilnehmer mit den Händen den Takt klatschten. Aber was soll ich sagen, der Teufel mochte seine schwarze Hand im Spiel haben, es kam keine reche Stimmung auf.

Ja, geradezu von Anfang an nahm die Veranstaltung einen direkt bösartigen Charakter an. ich denke, es war der zwang, sich beschenken lassen zu müssen, der alle so aufreizte. Die Spender dieser Weihnachtsstimmung wurden nicht mit freundlichen Augen betrachtet. Schon nach den ersten Gläsern des gestifteten Whiskys wurde der Plan gefaßt, eine regelrechte Weihnachtsbescherung, sozusagen ein Unternehmen größeren Stils, vorzunehmen.

Da ein Überfluß an Geschenkartikeln nicht vorhanden war, wollte man sich weniger an direkt wertvolle und mehr an solche Geschenke halten, die für die zu Beschenkenden passend waren und vielleicht sogar einen tieferen Sinn ergaben.

so schenkten wir dem Wirt einen Kübel mit schmutzigem Schneewasser von draußen, wo es davon gerade genug gab, damit er mit seinem alten Whisky noch ins neue Jahr hinein ausreichte. Dem Kellner schenkten wir eine alte, erbrochene Konservenbüchse, damit er wenigstens ein anständiges Servicestück hätte, und einem zum Lokal gehörigen Mädchen ein schartiges Taschenmesser, damit es wenigstens die Schicht Puder vom vergangenen Jahr abkratzen könnte.

Alle diese Geschenke wurden von den Anwesenden, vielleicht nur die Beschenkten ausgenommen, mit herausforderndem Beifall bedacht. Und dann kam der Hauptspaß.

Es war nämlich unter uns ein Mann, der mußte einen schwachen Punkt haben. Er saß jeden Abend da, und Leute, die sich auf dergleichen verstanden, glaubten mit Sicherheit behaupten zu können, daß er, so gleichgültig er sich auch geben mochte, eine gewisse, unüberwindliche Scheu vor allem, was mit der Polizei zusammenhing, haben mußte. Aber jeder Mensch konnte sehen, daß er in keiner guten Haut steckte.

Für diesen Mann dachten wir uns etwas ganz Besonderes aus. Aus einem alten Adreßbuch rissen wir mit Erlaubnis des Wirtes drei Seiten aus, auf denen lauter Polizeiwachen standen, schlugen sie sorgfältig in eine Zeitung und überreichten das Paket unserm Mann.

Es trat eine große Stille ein, als wir es überreichten. Der Mann nahm zögernd das Paket in die Hand und sah uns mit einem etwas kalkigen Lächeln von unten herauf an. Ich merkte, wie er mit den Fingern das Paket anfühlte, um schon vor dem Öffnen festzustellen, was darin sein könnte. Aber dann machte er es rasch auf.

Und nun geschah etwas sehr merkwürdiges. Der Man nestelte eben an der Schnur, mit der das Geschenk" verschnürt war, als sein Blick, scheinbar abwesend, auf das Zeitungsblatt fiel, in das die interessanten Adreßbuchblätter geschlagen waren. Aber da war sein Blick schon nicht mehr abwesend. Sein ganzer dünner Körper (er war sehr lang) krümmte sich sozusagen um das Zeitungsblatt zusammen, er bückte sein Gesicht tief darauf herunter und las. Niemals, weder vor- noch nachher, habe ich je einen Menschen so lesen sehen. Er verschlang das, was er las, einfach. Und dann schaute er auf. Und wieder hatte ich niemals, weder vor- noch nachher, einen Mann so strahlend schauen sehen wir diesen Mann.

Da lese ich eben in der Zeitung", sagte er mit einer verrosteten mühsam ruhigen Stimme, die in lächerlichem Gegensatz zu seinem strahlenden Gesicht stand, daß die ganze Sache einfach schon lang aufgeklärt ist. Jedermann in Ohio weiß, daß ich mit der ganzen Sache nicht das Geringste zu tun hatte." Und dann lachte er.

Und wir alle, die erstaunt dabei standen und etwas ganz anderes erwartet hatten und fast nur begriffen, daß der Mann unter irgendeiner Beschuldigung gestanden und inzwischen, wie er eben aus dem Zeitungsblatt erfahren hatte, rehabilitiert worden war, fingen plötzlich an, aus vollem Halse und fast aus dem Herzen mitzulachen, und dadurch kam ein großer Schwung in unsere Veranstaltung, die gewisse Bitterkeit war überhaupt vergessen, und es wurde ein ausgezeichnetes Weihnachten, das bis zum morgen dauerte und alle befriedigte.

Und bei dieser allgemeinen Befriedigung spielte es natürlich gar keine Rolle mehr, daß dieses Zeitungsblatt nicht wir ausgesucht hatten, sondern Gott.

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  #4  
Alt 22.12.2006, 21:22
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Das Märchen von den fünfundzwanzig Bohnenstangen


Da sind im tiefen Wald einmal fünfundzwanzig schöne Tannebäumchen gewesen. Denen hat es nicht mehr gefallen im grünen Wald, und sie haben gesagt: "Jetzt wollen wir in die weite Welt gehen. Der Wald ist uns zu grün, der Wald ist uns zu tief." Und in einer Nacht, da heben die fünfundzwanzig Tannenbäumchen Ihre Wurzeln aus der Erde genommen und sind in die weite Welt gegangen. Was waren das dumme Tannenbäumchen! Aber sie sind noch so jung gewesen und haben gemeint, in der weiten Welt wäre es schöner als im dunklen, grünen, tiefen Wald.
Und wie sie so durch die weite Welt gingen, da hatten sie auf einmal Hunger. Und sie sind in der Stadt in ein Gasthaus gegangen und wollten etwas zu essen haben. Da hat der Wirt Ihnen eine Erbsensuppe gebracht. "Oh weh!" haben die fünfundzwanzig Tannenbäumchen gesagt, "gibt es denn hier keinen Tau?"
"Nein, den gibt es nicht in der weiten Welt."

Da haben die Tannenbäumchen die Erbsensuppe stehen lassen und sind weitergegangen. Und sie sind an ein Haus gekommen, daraus roch es so schön nach Tannenharz, und die fünfundzwanzig Tannenbäumchen sind nur sie herumgesprungen vor Freude. Und dann haben sie an die Haustür geklopft. Und wie der Mann von dem Haus herausgekommen ist, da haben sie ihn gefragt:
Mann vom Häuschen Tannenharz
Können wir nicht bei Dir wohnen?
Wir wollen gern Dein Häuschen kehren
Deine kleinen Kinder lehren,
Erzählen von dem grünen Wald,
Und im Winter, wenn es kalt,
Dir den Ofen schüren.

"Ei ja" hat der Mann gesagt, "kommt nur hereinspaziert, zum Ofenschüren kann ich Euch gerade brauchen." Und er hat die Türe weit aufgemacht.
von Wilhelm Mathiessen
08.08. 1891 - 26.11. 1965


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  #5  
Alt 24.12.2006, 01:54
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Frieden auf Erden

Wie jedes Jahr und jeden Tag sah Jesus um die gleiche Zeit in seinen Terminkalender. "Aha", murmelte er, "die Erde ist heute also wieder einmal an der Reihe". Er befahl sogleich den Engel Bartholomäus zu sich.

"Bartholomäus", befahl er, "sieh auf der Erde nach, ob die Menschen dort in meinem Sinne leben und arbeiten. Stelle fest, ob sie Frieden halten und sich verstehen. Prüfe, ob sie sich geben und nicht nur fordern und nehmen. Na, du kennst dich ja aus, beeile dich und berichte mir dann."

Der Engel Bartholomäus begab sich also auf die Erde und beobachtete die Menschen. Er spazierte mit ihnen durch die Städte, sah ihre glücklichen Gesichter und hörte, wie sich die Menschen gegenseitig die nettesten Dinge wünschten. Später dann schaute er durch so manches Wohnzimmerfenster. Fleißig notierte der Engel alles.

Gedankenvoll blickte er sich um. "Ja", dachte er, "Jesus hat wirklich alles gut durchdacht. Sein Leben und Wirken hier auf der Erde hat Früchte getragen. Die Menschen sind friedlich, fröhlich, unbekümmert und zufrieden."

Also kehrte er mit diesen guten Nachrichten zurück und berichtete sogleich. "Herr, es ist wundervoll, genau so, wie Du es Dir gewünscht hast. Ich habe die Menschen beobachtet. Sie leben in Deinem Sinne. Tagsüber gehen Sie ihrer Arbeit nach, sind fröhlich und zufrieden. Jeder hat für jeden ein nettes Wort. Sie sind gutgelaunt, lachen von Herzen und sind sehr hilfsbereit. Abends gehen sie in die Kirche, beten Dich an und lobpreisen Dein Werk. Alle danken Dir für Deine Güte, die Sünder sitzen in den Beichtstühlen und bereuen. Ich habe gesehen, wie sich die Menschen beschenken. Die Eltern ihre Kinder, die Kinder ihre Eltern. Die Staatsmänner übermitteln überall hin ihre Grüße und auch sie erwähnen Dich und gedenken Deiner."

"Brav, brav, Bartholomäus", lobte Jesus beifällig dessen Bericht und hakte die Erde in seinem Terminkalender mit goldenem Stift ab. Es waren nur goldene Haken hinter allen diesen notierten Welten, zu denen er seine Engel sandte. Überall war alles in seinem Sinne in Ordnung.

Auf der Erde war inzwischen der Heilige Abend vorbei. Die Rundfunkstationen verkündeten die Beendigung der Waffenstillstände, die Kinder zerbrachen ihr neues Spielzeug, die Eltern stritten wie gewohnt, die Staatsmänner drohten und alle Menschen waren wieder misslaunig.
Jesus sendet die Engel immer nur an seinen Geburtstagen auf seine Welten. Wie sollte er also jemals erfahren, wie es auf unserer Welt wirklich zugeht?

Adalbert Hauser


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  #6  
Alt 24.12.2006, 01:56
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Heiligabend

Es war Heiligabend, überall im Land, auch in der großen Stadt. Eine Schneedecke lag auf den Häusern und Straßen. Leicht vergilbt war sie schon, weil die große Stadt sogar Weihnachten ihren schmutzigen Stempel aufdrückte. Aber es standen Sterne am Himmel, nicht viele, doch schöne, schön wie eh und je. Die Luft war zum Schneiden kalt, richtig anfassen konnte man sie.

Der Mann legte einen Nebelwattebausch vor sich in die Luft, der sich vor Schreck in der Kälte gleich zusammen knäulte und dann langsam in die Nacht davon schwebte. Er war allein. Ab und zu brauste ein Auto vorbei, in dem es warm sein musste. Die Menschen darin fuhren zu einem Ziel, an dem andere Menschen auf sie warteten und sich freuen würden. Über den Mann freute sich niemand. Neulich hatte ihm einer gesagt, früher hätte man solche Taugenichtse wie ihn umgebracht. Heute saß der wohl mit Tränen der Rührung in den Augen vor irgend einem Weihnachtsbaum.

Der Mann hatte Hunger. Natürlich hätte er ins Asyl gehen können, wahrscheinlich hatte man da heute Abend sogar eine Tischdecke aufgelegt. Aber nichts in der Welt hätte ihn da heute hingetrieben. Er dachte an die kalten Fliesen, die schlecht verputzten leicht fleckigen Wände, den abgestandenen Geruch, vermischt mit Desinfektionsmitteln.

Er bemühte sich, an etwas anderes zu denken. Er wollte heute Nacht draußen sein, er wollte sehen, ob es der Wärme seines geliebten Sternenhimmels und der freien Luft noch einmal gelingen würde, die Kälte zu vertreiben, die mit jedem Jahr schrecklicher für seinen alten Körper wurde. Vielleicht würde er doch noch einmal spüren, was Weihnachten als Kind für ihn bedeutet hatte.

Er setzte sich auf eine Bank. Um ihn herum war ein kleiner Park zwischen zwei Hauptstraßen. Es war spät und der Park leer. Oder doch nicht? Auf dem einzigen Weg kam eine alte Frau daher, langsam, als sei sie schwer beladen. Aber sie hatte nichts bei sich, nur sich selbst. In ihrem Gesicht gab es tausend Runzeln, Falten, ja Furchen wie auf einem Acker im Frühjahr.

Aber in ihren Augen war Sommer. Endlos lang ging sie auf den alten Mann zu, dabei war sie ihm von Anfang an ganz nahe. Dann stand sie endlich vor ihm., gebeugt, aber nicht außer Atem. Sie schauten sich an. Der Blick der Frau war ernst und voller Liebe. In seinen Ohren rauschte es und er hatte den Eindruck, als würde die Welt hinter der Frau sich langsam auflösen.
"Wie heißt du?" fragte sie ihn langsam. Ihre Stimme klang ruhig, etwas rau und gebrochen vielleicht.

"Peter" hörte er sich einen Namen sagen, den er schon fast vergessen hatte, denn er hatte im Mund der anderen Menschen meistens nur etwas hässliches, wertloses gemeint. Aber diesmal löste sich das Wort sanft und freundlich von seinem Mund, es wurde größer, immer größer und fing dann an, in den Himmel davon zu schweben, höher und höher. Dort stand sein Name dann von einem Horizont zum anderen in goldgelben Buchstaben geschrieben und Sterne umflogen die Ränder. Dann wurde das Wort langsam wieder kleiner und verschwand in der Unendlichkeit des schwarzblauen Nachthimmels.

"Warum schaust du so unglücklich?" fragte die Frau jetzt, während sie ihre faltigen Hände, die aus graugelb geblümten Ärmeln kamen, auf seine Schultern legte. Als die Frage ihn traf, hüllte sie ihn ein wie ein dicker weicher Mantel und er fühlte eine Wärme in sich fließen, wie er sie schon lange nicht mehr gespürt hatte.

Und dann erzählte Peter. Von der Schule erzählte er, wo die Menschen ihm Fragen stellten, ohne dass ihm je einer Antworten gesagt hätte, von seinen Eltern, die Karriere machten, von seinen Kindern, die Geld wollten, von seinem Chef, der keinen Menschen wollte. Dann war da die Hoffnung auf Bücher, die er doch nicht verstanden hatte, da waren Sozialhelfer, die ihn nicht verstanden hatten, dann kam der Alkohol.

Alles, alles hörte die Frau sich geduldig an. Und all diese Worte, Bilder, Geschichten, Peters Furcht und auch Peters Freude und Hoffnung, die mit der Zeit freigeweht wurden, all das schwebte nach oben in den Himmel, wurde größer, nahm tausend Farben an, sprühte, umgab sich mit goldenen Girlanden, explodierte und schlug Feuerräder.

Es war ein gewaltiges Feuerwerk. Der Himmel war voll von blitzenden, leuchtenden Worten, die langsam in die Weite des Weltalls davon schwebten. Nachdem sich die Worte verloren hatten, war der Himmel übersät mit schillerndem, blitzendem Staub. Und Peter war nicht mehr kalt. Seine Worte hatten seiner Welt die lange vermisste Wärme zurückgegeben.
Lange starrte er ungläubig in den Himmel und nur langsam lösten sich seine Gedanken von den Bildern.

"Du bist nicht von hier, nicht wahr?" rang Peter sich durch, zu fragen.
"Nein," lächelte die Frau, "aber ich bin hier, nur für dich und es war ein langer Weg." "Warum besuchst du mich?"
"Du hast mich doch gerufen! Lass uns tanzen!"

Peter stand auf, schwerfällig, denn er hatte lange nicht mehr getanzt und seine Knochen waren darüber mürbe geworden. Vorsichtig und unsicher Umfasste er die alte Frau, der Stoff ihres Kleides fühlte sich grob an.
Er hatte etwas Angst, doch dann merkte er, dass seine Füße sich von selbst bewegten. Oder bewegten sie sich gar nicht? Peter schwebte durch den Park. Die Winternacht drehte sich um die beiden und jetzt hörte er auch die Musik. Glocken klangen, ganz leise und sie gaben den Takt an. Ein Schwindelgefühl hüllte ihn sacht und zärtlich ein. Die beiden Geliebten schienen stillzustehen und die Welt drehte sich im Walzertakt.

Das lächelnde Gesicht der geheimnisvollen Frau beleuchtete Peter. Das Leuchten dehnte sich aus und schon war alles um ihn herum in helles Licht gebadet. Auch das Klingen der Glocken wurde größer und lauter und schien die ganze Welt auszufüllen. Weiche, leuchtende, glitzernde Schneeflocken wehten ihm jetzt ins Gesicht.

Das Lächeln der Frau war auf eine seltsame Weise anders geworden. Das Lächeln eines Kindes? Es lag in seinen Armen und schrie und der alte Mann spürte, wie ein Schauer von Glück seine Falten glättete. Die Schneeflocken fielen immer wilder und schon war es ein Schneesturm, der ihm entgegenwehte. Nur noch das Gesicht des Kindes schmolz mit seiner Wärme eine Öffnung hinein. Peter schaute und schaute. Wärme floss zu ihm herüber, in ihn hinein, füllte ihn ganz bis zum äußeren Rand seiner Haut mit Liebe. Und nichts mehr sonst war da. Nur noch Liebe, Liebe, Liebe.
Der Schnee hatte den alten Mann auf der Bank zugeweht. Er saß still da, wie ein Schneemann, den Kinder dort hingesetzt hatten. Die Hände hatte er gefaltet, der Kopf war leicht nach vorne genickt.

Roland Rauch


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  #7  
Alt 24.12.2006, 02:02
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Idee AW: ***weihnachtsgeschichten***

Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern

Es war so grässlich kalt; es schneite und es begann dunkler Abend zu werden. Es war auch der letzte Abend des Jahres, Silvesterabend. In dieser Kälte und in dieser Dunkelheit ging auf der Straße ein kleines, armes Mädchen mit bloßem Kopf und nackten Füßen; ja, sie hatte zwar Pantoffeln angehabt, als sie von Hause wegging, aber was nützte das schon! Es waren sehr große Pantoffeln, ihre Mutter hatte sie zuletzt benutzt, so groß waren sie, und die verlor die Kleine, als sie über die Straße eilte, während zwei Wagen so erschreckend schnell vorbeifuhren. Der eine Pantoffel war nicht zu finden, und mit dem andern lief ein Knabe davon; er sagte, den könne er als Wiege brauchen, wenn er selbst einmal Kinder bekomme.

Da ging nun das kleine Mädchen auf den nackten, kleinen Füßen, die vor Kälte rot und blau waren. In einer alten Schürze trug sie eine Menge Schwefelhölzer, und ein Bund hielt sie in der Hand. Niemand hatte ihr den ganzen Tag hindurch etwas abgekauft; niemand hatte ihr einen kleinen Schilling gegeben. Hungrig und verfroren ging sie dahin und sah so eingeschüchtert aus, die arme Kleine! Die Schneeflocken fielen in ihr langes, blondes Haar, das sich so schon um den Nacken ringelte, aber an diese Pracht dachte sie wahrlich nicht. Aus allen Fenstern glänzten die Lichter, und dann roch es auf der Straße so herrlich nach Gänsebraten; es war ja Silvester- Abend, ja, daran dachte sie!

Drüben in einem Winkel zwischen zwei Häusern, von denen das eine etwas mehr vorsprang als das andere, dort setzte sie sich hin und kauerte sich zusammen. Die kleinen Beine hatte sie unter sich hochgezogen; aber es fror sie noch mehr, und nach Hause zu gehen, wagte sie nicht. Sie hatte ja keine Schwefelhölzer verkauft, nicht einen einzigen Schilling bekommen. Ihr Vater würde sie schlagen, und kalt war es zu Hause, sie hatten nur eben das Dach über sich, und da pfiff der Wind herein, obwohl in die größten Spalten Stroh und Lumpen gestopft waren. Ihre kleinen Hände waren beinahe ganz abgestorben vor Kälte. Ach!
Ein kleines Schwefelhölzchen könnte gut tun. Wenn sie es nur wagen würde, eines aus dem Bund zu ziehen, es gegen die Wand zu streichen und die Finger zu erwärmen! Sie zog eins heraus, ritsch! Wie es sprühte, wie es brannte! Es war eine warme, helle Flamme, wie ein kleines Licht, als sie, es mit der Hand umschirmte. Es war ein seltsames Licht: dem kleinen Mädchen war es, als säße es vor einem großen, eisernen Ofen mit blanken Messingkugeln und einem Messingrohr. Das Feuer brannte so herrlich, wärmte so gut; nein, was war das! Die Kleine streckte schon die Füße aus, um auch diese zu wärmen - da erlosch die Flamme. Der Ofen verschwand, sie saß mit einem kleinen Stück des abgebrannten Schwefelhölzchens in der Hand.

Ein neues wurde angestrichen, es brannte, es leuchtete, und wo der Schein auf die Mauer fiel, wurde diese durch- sichtig wie ein Schleier; sie sah gerade in die Stube hinein, wo der Tisch gedeckt stand mit einem blendendweißen Tischtuch, mit feinem Porzellan, und herrlich dampfte die gebratene Gans, gefüllt mit Zwetschgen und Äpfeln; und was noch prächtiger war: die Gans sprang von der Schüssel herunter, watschelte durch die Stube, mit Messer und Gabel im Rücken; gerade auf das arme Mädchen kam sie zu. Da erlosch das Schwefelholz, und es war nur die dicke, kalte Mauer zu sehen.

Die Kleine zündete ein neues an. Da saß sie unter dem schönsten Weihnachtsbaum; er war noch größer und schöner geschmückt als der, den sie bei der letzten Weihnacht durch die Glastür bei dem Kaufmann gesehen hatte. An den grünen Zweigen brannten tausend Kerzen, und bunte Bilder, gleich denen, welche die Schaufenster schmückten, sahen auf sie herab. Die Kleine streckte beide Hände in die Höhe - da erlosch das Schwefelholz; die vielen Weihnachtslichter stiegen höher und höher. Sie sah, jetzt waren sie zu den hellen Sternen geworden, einer von ihnen fiel und hinterließ einen langen Feuerstreifen am Himmel. »Jetzt stirbt jemand«, sagte die Kleine, denn die alte Großmutter, die einzige, die gut zu ihr gewesen, aber nun tot war, hatte gesagt: wenn ein Stern fällt, geht eine Seele hinauf zu Gott.

Sie strich wieder ein Schwefelhölzchen gegen die Mauer, es leuchtete ringsumher, und in dem Glanz stand die alte Großmutter, so klar, so schimmernd, so mild und lieblich.

»Großmutter«, rief die Kleine, »oh, nimm mich mit! Ich weiß, du bist fort, wenn das Schwefelhölzchen ausgeht, fort, ebenso wie der warme Ofen, der herrliche Gänsebraten und der große, gesegnete Weihnachtsbaum!«

Und sie strich hastig den ganzen Rest von Schwefelhölzern an, die im Bund waren. Sie wollte Großmutter recht festhalten; und die Schwefelhölzer leuchteten mit einem solchen Glanz,
dass es heller war als der lichte Tag. Großmutter war früher nie so schön, so groß gewesen; sie hob das kleine Mädchen auf ihren Arm, und sie flogen in Glanz und Freude so hoch, so hoch dahin; und dort war keine Kälte, kein Hunger, keine Angst, sie waren bei Gott.

Aber im Winkel beim Hause saß in der kalten Morgenstunde das kleine Mädchen mit roten Wangen, mit einem Lächeln um den Mund - tot, erfroren am letzten Abend des alten Jahres. Der Neujahrsmorgen ging über der kleinen Leiche auf die mit den Schwefelhölzern dasaß, von denen ein Bund fast abgebrannt war.
Sie hatte sich wärmen wollen, sagte man. Niemand wußte, was sie Schönes gesehen hatte und in welchem Glanz sie mit der alten Großmutter eingegangen war zur Neujahrsfreude.

Hans Christian Andersen


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